Interview

Marcel Gisler: «Kann nicht am Zeitrad drehen»

Stefan Gubser
Interview: Stefan Gubser

Rekonstruiert die wahre Geschichte von einem, der ganz weit oben war und sich jetzt tiefe Gedanken macht, warum das nicht gut gehen konnte: Regisseur Marcel Gisler über Fallhöhen, Fakten und Fake.

Marcel Gisler: «Kann nicht am Zeitrad drehen»

Machen Sie Florian Burkhardt zu dem Schauspieler, der er mit 21 so gern geworden wäre?

Zu einem Schauspieler nicht. Gut, Jean-Luc Godard hat einmal bemerkt: Der einzige Unterschied zwischen einem Dokumentar- und einem Spielfilm bestehe darin, dass die Darsteller in Dokumentarfilmen nicht bezahlt werden. (lacht)

Müsste man einem Menschen mit einer diagnsotizierten «generalisierten Angststörung bei narzisstischer Persönlichkeitsstruktur mit Selbstwert- und Identitätsproblematik mit Anteilen einer sozialen Phobie» nicht davon abraten, sich in einem Dokumentarfilm in der Öffentlichkeit auszustellen?

Wenn Sie Florian fragten, würde er wohl sagen, er habe sich gegen den Film gesträubt. Er wollte oft wissen: Muss ich vor die Kamera? Worauf ich zu sagen pflegte: Es geht eigentlich nicht ohne dich. Du bist ja nicht tot!

Sie wollten nicht Regie führen, als man Ihnen Electroboy 2008 als Spielfilm anbot. Warum?

Eine Frage der Glaubwürdigkeit: Da schien mir viel Fake und Hochstapelei zu sein. Zu Unrecht, wie sich später zeigte. Aber das könnte natürlich das Thema eines Spielfilms sein.

Frei nach Catch Me if You Can?

Genau. Man muss sich mal überlegen, was das kosten würde. Das wäre ein historischer Film, der in den 90er Jahren spielt, in Los Angeles, New York, London, Paris und in der Schweiz – eine Riesenkiste, nicht finanzierbar in der Schweiz. Mich hat aber die Fallhöhe zwischen dem äusseren Glamour und Florians pathologischen Zuständen interessiert. Die Diskrepanz zwischen der engen Welt, aus der er kommt, und dem Wunsch, so etwas wie «global» zu sein.

Es ist auch für den Küchenpsychologen einigermassen nachvollziehbar, warum jemand mit Burkhardts narzisstischer Veranlagung einem Film über sein Leben nicht abgeneigt ist. Aber was haben die Eltern für ein Interesse, mit denen er gebrochen hatte? Das sind Leute aus einer Welt von gestern und kaum scharf auf eine mediale Öffentlichkeit.

Sie wollten auch lange nicht auftreten; auch wenn mir klar war, dass der Film die Eltern braucht. Es war Florian, der sie sanft zum Mitmachen drängte. Mit der Zeit wurde Electroboy für die ganze Familie zu einem Katalysator, der ihnen half, ihre Geschichte aufzuarbeiten. Vielleicht auch nur mit mir; wie stark sie sich auch der Öffentlichkeit mitteilen, war den Eltern vielleicht nicht immer bewusst.

Der Regisseur, eine Kreuzung aus Psychotherapeut und Beichtvater?

Ich fand wichtig, dass man die Veränderung unseres Verhältnisses begreift, das ja immer intimer wird. Man soll verstehen, warum die Eltern plötzlich zu einer ganz anderen Offenheit fähig sind. Wir beginnen uns im Lauf des Films zu duzen, zum Beispiel. Das war eine Entwicklung, die ich nicht verstecken wollte, weil sie Teil des Films und der Realität ist. Das ist vielleicht auch meiner Naivität als Dok-Neuling geschuldet – und meinem Hang zur Wahrhaftigkeit. Ich wollte nicht, dass es eine Wirklichkeit mit und eine andere Wirklichkeit ohne Kamera gibt.

Schon ganz am Anfang hört man, wie Sie sich mit Florians Burkhardts Mutter darüber unterhalten, wie sie ihre Handtasche halten soll. Normalerweise behauptet der Dokumentarfilmer eine Distanz zu seinem Gegenstand – Sie machen aus Ihrer Präsenz und zunehmenden Nähe zu Ihren Figuren keinen Hehl. Weshalb?

Ich habe während des Drehs gespürt, dass die filmische Selbstreflexion eine Rolle spielen wird – Florians Thema ist ja die Selbstinszenierung. Irgendwann wurde es auch notwendig, dass ich Teil des Filmes werde. Wenn ich eine Wirklichkeit abbilden will, muss ich auch abbilden, was diese Wirklichkeit beeinflusst. Das weiss man in den Naturwissenschaften, in der Soziologie schon lange: Der Beobachtende beeinflusst das Beobachtete durch sein Beobachten. Jedes Bild, das ich drehe, ist eine Absprache zwischen mir und der Person im Bild.

Das berühmte Leben selbst also führte Regie, als Vater Burkhardt im langen «Finale» ein Sonnenblumenhemd trägt – und die Mutter eine Rosenbluse?

Das war reiner Zufall. Auch ihre Perücke im ersten Interview war nicht meine Idee. Damals kam ich nur sehr schwer an sie heran, sie gibt nur kurze Kommentare. Die Perücke passt zu dieser Haltung. Am Schluss ist sie wie befreit und muss sich nicht mehr unter einer Perücke verstecken. Meine Maxime war: Ich bilde deine inszenierte Wirklichkeit ab, nicht meine Fantasie von dir.

Florian Burkhardt hat sich freiwillig an den Computer gesetzt, um zu zeigen, wie eng sein Bewegungsradius in der realen Welt geworden sei?

Das war eine der wenigen Vorgaben, die von mir kamen. Er erzählt, oder besser: Ich erzähle ja am Schluss des Films, dass Florian mit der Welt vor allem virtuell kommuniziert. Wenn das Internet sein Medium ist, dann kann man sich seine Welt gut auf Google anschauen.

Täuscht der Eindruck, oder sparen Sie nicht einige wichtige Lebensstationen aus, die man bei Wikipedia als «Erfolge» verbucht? Er gilt als Pionier in der Snowboard-Szene. Er hat fünf Platten herausgebracht. Beides lassen Sie weg.

Gedreht haben wir die Episoden, aber ich hab sie aus Gründen der Verdichtung weggelassen. Bei der fünften Erfolgsgeschichte hat man das System Burkhardt verstanden: Abbruch auf dem Höhepunkt des Erfolgs. Ich brauche das nicht bis zur Redundanz zu wiederholen. Da bin ich ganz Spielfilmregisseur. Die Leute sollen dranbleiben.

Es passt aber auch einfach besser ins Bild, dass jemand fette Parties veranstaltet, denen er wegen seiner Sozialphobien fernbleiben muss – als dass er zum Beispiel Fanzines herausgibt?

Ist ja auch spannender, oder? Natürlich treffe ich eine Auswahl und fokussiere auf bestimmte Themen, die das Wesen der porträtierten Person aus meiner Sicht am besten beschreiben. Ich kann in einhundertzehn Minuten nicht ein ganzes Leben in all seinen Facetten erzählen. Das geht nur durch Verdichtung und Repräsentativität.

Sie sollen Burkhardt nach den Vorgesprächen nicht zugetraut haben, den Film tragen zu können. Dabei ist seine phasenweise ironische Distanz zu sich und seiner Familie verblüffend. Haben Sie ihn unterschätzt?

Mit dieser erzählerischen Souveränität, mit dieser emotionalen Präsenz hat er sich vorher nie geäussert. Deshalb wollte ich ihn lange gar nicht zur Sprache kommen lassen. (lacht) Die Grundidee war, dass 20 verschiedene Leute sein Leben erzählen und so eine schillernde Figur entsteht, die nicht ganz greifbar ist. Florian sollte erst im letzten Drittel des Films zu Wort kommen. Ich bin aber froh, hat er ein so starkes Interview abgeliefert. Danach konnten wir zwar unser Konzept in den Müll werfen, aber wir hatten einen roten Faden.

Florian, das von der Mutter vergötterte, über-umsorgte Kind aus streng katholischem Hause in der Innerschweiz wünscht sich in die Glamourwelt, wird zum Topmodel und Internetvisionär – und landet mit Angstpsychosen auf dem harten Boden einer psychiatrischen Anstalt. Geht das nicht fast zu gut auf?

Das haben wahre Geschichten oft an sich, die innere Kohärenz scheint zu perfekt, um glaubwürdig zu sein. Kein Wunder, wurde ich nach Vorstellungen schon dazu aufgefordert, zuzugeben, mein Film sei ein Mockumentary. Weil er für einen Dokumentarfilm zu gut geschrieben sei.

Nie das Gefühl gehabt, ich muss meine Protagonisten vor sich selbst schützen?

Florian wusste ganz genau, was er sagt – und was er nicht sagen will. Bei den Eltern war es anders. Aber ich will nicht Privates an die Öffentlichkeit zerren, damit man nachher mit dem Finger auf sie zeigt. Ich will diese Menschen begreifen.

Wo verläuft für Sie die Grenze zwischen öffentlich und zu privat?

Es gab eine Stelle, mit der Florians Vater nicht einverstanden war, und wir haben darüber diskutiert, sie zu entfernen. Aber am Ende war er einverstanden, dass sie drin bleibt.

Als seine Frau sagt, sie hätte fremdgehen müssen, weil er keinen Sex mehr wollte?

Ja, da kommt so viel zum Ausdruck: Auch die Befreiung, über Dinge reden zu können, die einen ein Leben lang beschäftigt haben. Für mich war wichtig: Es soll jeder zu dem, was im Film gesagt wird, stehen können. Das Andere ist die Frage: Was ist der Zweck, Privates öffentlich zu machen? In den Medien geht es heute meistens darum, jemanden blosszustellen oder fertig zu machen. Mir ging es darum, meine Hauptfigur zu verstehen, und dafür war es unvermeidlich, gewisse private Dinge anzusprechen, um Zusammenhänge zu erkennen.

Rückblickend entsteht fast der Eindruck, Florian Burkhardt habe diesen Film auch deshalb gewollt, weil er ahnte, er führe seine Familie wieder zusammen?

Mir war manchmal schon ein bisschen eigenartig zumute, als ich realisierte, welche Verantwortung im Job liegt, den ich habe. Ich musste immer die Balance zwischen der Distanz des Dokumentaristen und meiner Empathie halten. Das wurde ein sehr vertrauensvolles Verhältnis. Eine Freundschaft.

Die hat den Film überlebt?

Wir pflegen weiterhin den Kontakt. Aber während des Films wurde ich fast zu einem Teil der Familie. Vielleicht weil ich durch meine unbefangene Fragerei zu einer Art Ventil geworden bin und in der Familie auf einmal über vieles gesprochen wurde, das jahrelang tabuisiert war. Ich hab versucht, die Gespräche so einfühlend wie möglich zu führen, aber es gab auch die affektiven Momente, wo ich meinen Mund nicht halten konnte. Aus Empörung zum Beispiel, oder einmal breche ich in Gelächter aus, weil mir das Gesagte so absurd vorkommt. Ich weiss, die Eltern mochten das. Sie mochten, dass ich es ihnen sehr direkt sagte, wenn ich anderer Meinung war als sie.

Und das zeigen Sie im Film eben auch. Ist diese Ehrlichkeit so etwas wie Ihr, grosses Wort, dokumentarischer Ethos?

Ich kann nur die Wirklichkeit abfilmen, wie sie sich im Moment gerade präsentiert. Wenn der Vater nach einem Jahr etwas anderes über die Homosexualität des Sohnes sagt, muss ich damit leben. Ich kann nicht am Zeitrad drehen, weil es mir besser ins Konzept passt – das finde ich unethisch. Aber es wird gemacht. Es wird viel getrickst im Dokumentarfilm. Schockierend.

21. November 2014

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