Kritik31. Oktober 2019

Netflix-Kritik «Wir sind die Welle»: Eine Dramaserie um Jugendliche, die den Aufstand proben

Netflix-Kritik «Wir sind die Welle»: Eine Dramaserie um Jugendliche, die den Aufstand proben
© Netflix

Die neue deutsche Netflix-Produktion fusst lose auf dem 1981 veröffentlichten Roman „Die Welle“, der wiederum von einem Sozialexperiment inspiriert wurde. Statt einer faschistischen Bewegung steht dieses Mal allerdings ein radikales Protestbündnis aus jungen Menschen im Mittelpunkt, das gegen kapitalistische Missstände zu Felde zieht.

Serienkritik von Christopher Diekhaus

Unter dem Namen „The Third Wave“ ging ein 1967 durchgeführtes Schulexperiment in die Geschichte ein, mit dem der kalifornische Lehrer Ron Jones die Verführungskraft nationalsozialistischer Ideen illustrieren wollte. Da der Versuch eine gefährliche Eigendynamik entwickelte, kam es nach fünf Tagen zum Abbruch. Im Jahr 1981 entstand der auf den Ereignissen basierende US-Fernsehfilm „Die Welle“, der als Grundlage für Morton Rhues heute als Klassiker geltenden Roman diente.

In einer Zeit, in der immer mehr junge Leute auf die Strasse gehen, um ihren Zukunftsängsten Ausdruck zu verleihen, könnte die Geschichte nicht aktueller sein.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

2008 brachte der Regisseur Dennis Gansel schliesslich eine Kinoversion heraus, die das Geschehen in die deutsche Gegenwart verlagerte. Die kreativen Köpfe hinter dieser Neuinterpretation legen nun eine sechsteilige Serienvariante vor, bei der sie sich jedoch grosse Freiheiten nehmen, um am Puls der Zeit zu sein. Alles dreht sich hier um eine Gruppe Jugendlicher im Kampf gegen das System und die Verfehlungen des Kapitalismus. „Fridays for Future“ und „Extinction Rebellion“ lassen grüssen.

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„Wie weit würdest du gehen?“ Diese provokante Frage springt den Zuschauer schon in der ersten Folge an und gibt die Richtung vor.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

«Wir sind die Welle» spielt in der fiktiven deutschen Stadt Meppersfeld. Am dortigen humanistischen Gymnasium sorgt der neue Oberstufenschüler Tristan (Ludwig Simon) von Anfang an für Aufsehen. Nicht nur wegen seines Erscheinungsbildes. Auch, weil er den Nazi-Sympathisanten auf dem Pausenhof die Stirn bietet und sich für Aussenseiter einsetzt. Besonders fasziniert ist die aus reichem Elternhaus stammende Lea (Luise Befort), die durch den Kontakt zu Tristan ihr Wohlstandsleben plötzlich in Frage stellt.

Seine radikalen Gedanken und sein unerschrockenes Auftreten finden schnell weitere Anhänger: den Libanesen Rahim (Mohamed Issa), den zurückhaltenden Hagen (Daniel Friedl) und die als Freak abgestempelte Zazie (Michelle Barthel). Kurz darauf schliessen sich die fünf Teenager zu einer Aktivistenbewegung zusammen, die sich selbst den Namen „Die Welle“ gibt. Der gegen Klimasünder, Ausbeuter und Kriegstreiber gerichtete Protest gerät allerdings schnell ausser Kontrolle.

Die Serienschöpfer wollen gewalttätigen Extremismus geisseln und fordern mit ihrem hochexplosiven Szenario Diskussionen regelrecht heraus.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

In einer Zeit, in der immer mehr junge Leute auf die Strasse gehen, um ihren Zukunftsängsten und ihrer Wut über die Versäumnisse der Politik Ausdruck zu verleihen, könnte die Geschichte nicht aktueller sein. „Wie weit würdest du gehen?“ Diese provokante Frage springt den Zuschauer schon in der ersten Folge an und gibt die Richtung vor. Die Serienschöpfer Jan Berger, Dennis Gansel und Peter Thorwarth wollen gewalttätigen Extremismus geisseln und fordern mit ihrem hochexplosiven Szenario Diskussionen regelrecht heraus.

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Dass man dem Geschehen zunächst gebannt folgt, liegt vor allem an den stimmig ausgewählten, natürlich agierenden Schauspielern, die das wachsende Gemeinschaftsgefühl kraftvoll transportieren. Hervorheben muss man Ludwig Simon, der den mysteriösen Knastfreigänger Tristan mit der richtigen Portion Charisma versieht. Nur so ist das Aufkommen der Bewegung überhaupt glaubhaft. An der etwas holzschnittartigen Figurenkonstellation und dem recht abrupten Sinneswandel der angepassten Lea kann man sich zwar reiben. Die ersten Episoden lassen jedoch auf einen packenden Verlauf hoffen.

«Wir sind die Welle» hat ein ehrbares Anliegen, presst dieses aber zu oft in Plattitüden und Schwarz-Weiss-Muster.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

Zu einem Bruch kommt es nach der Aufnahme weiterer Mitglieder und dem Ausweiten der Protestaktionen. Die Macher möchten zeigen, wie etwas Gutgemeintes dramatisch aus dem Ruder laufen kann, verwässern dabei aber die Darstellung der aufbegehrenden Jugendlichen.

Nicht nur die auf einmal zahlreich mobilisierten Mitläufer präsentieren sich kopflos. Auch Tristan und seine engsten Vertrauten geben sich zunehmend erratischer, scheinen keinen grundsätzlichen Überzeugungen zu folgen, sondern bloss persönlich erlebte Ungerechtigkeiten bekämpfen zu wollen. Anders etwa als viele Unterstützer der „Fridays for Future“-Initiative, die echte Ideale vertreten und rückhaltlos hinter ihren Forderungen stehen. In «Wir sind die Welle» wirken die jungen Menschen zumeist wie Opportunisten, denen es in erster Linie um Spass und Aufmerksamkeit geht.

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Intensität und Spannung lassen besonders deshalb nach, weil immer häufiger erzählerischer Schlendrian vorherrscht. Akute Probleme unserer Zeit – beispielsweise Umweltverschmutzung, Tierquälerei und das Erstarken rechter Parteien – reiht die Serie wie auf einer Check-Liste aneinander. Die Ausbreitung der Bewegung durch Internet und soziale Medien gerät nur flüchtig in den Blick.

Bei ihren Kampagnen gehen Tristan, Lea und Co verblüffende Risiken ein. Die Motivationen mancher Protagonisten werden immer fadenscheiniger. Wiederholt muss man Ungereimtheiten schlucken. Und die Ermittlungsarbeit eines Polizisten (Robert Schupp) gestaltet sich erschreckend dilettantisch. «Wir sind die Welle» hat ein ehrbares Anliegen, presst dieses aber zu oft in Plattitüden und Schwarz-Weiss-Muster.

2.5 von 5 ★

«Wir sind die Welle» ist 1. November auf Netflix verfügbar.

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