Kritik28. September 2021

Netflix-Kritik «Midnight Mass»: Wiedererweckt

Netflix-Kritik «Midnight Mass»: Wiedererweckt
© Netflix

In seiner neuen Netflix-Miniserie setzt sich Horrorspezialist Mike Flanagan mit der Macht und den Gefahren des Glaubens auseinander. Statt eine wilde Dämonenshow zu entfesseln, lässt der Regisseur und Drehbuchautor in den ersten drei Episoden, auf denen der nachfolgende Text basiert, das Grauen nur langsam hervorbrechen.

Filmkritik von Christopher Diekhaus

«Hush», «Das Spiel», «Spuk in Hill House» und «Spuk in Bly Manor» – in den letzten Jahren hat Flanagan bereits diverse Arbeiten vorgelegt, die im Portfolio von Netflix veröffentlicht wurden. Im Rahmen eines umfassenden Exklusivdeals mit dem Streaming-Riesen entstand auch die auf einer Originalidee beruhende Miniserie «Midnight Mass», die das beliebte Horrormotiv der einsam gelegenen Insel aufgreift.

Schauplatz der in sieben Folgen entfalteten Handlung ist ein fiktives Fleckchen Erde namens Crockett Island, das seine besten Zeiten längst hinter sich hat. Befestigte Strassen sucht man hier vergebens. Unübersehbar nagt an den Holzhäusern der Bewohner der Zahn der Zeit. Das Festland scheint trotz einer Fährverbindung weit entfernt. Und die einheimischen Fischer leiden seit einer Ölkatastrophe in der Nähe unter existenzbedrohenden Auflagen. Eine Kirche thront nach wie vor im Zentrum der kleinen Gemeinde. Allerdings verliert auch der früher sinnstiftende Glaube immer mehr an Strahlkraft.

Die Zeit, die sich der kreative Kopf hinter «Midnight Mass» für die Verunsicherung und die Verletzungen seiner Protagonisten nimmt, lässt erahnen, dass ihm die Geschichte ein persönliches Anliegen ist.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

© Netflix

Nur widerwillig zieht es den kürzlich aus dem Knast entlassenen Riley Flynn (Zach Gilford), der vor vier Jahren unter Alkoholeinfluss einen Unfall mit Todesfolge verursacht hat, an diesen trostlosen Ort, den er einst seine Heimat nannte. Im Haus seiner Eltern Annie (Kristin Lehman) und Ed (Henry Thomas), zweier frommer Katholiken, will sich der von Gott abgefallene, einst trunksüchtige Ex-Häftling sammeln und sein Leben wieder in den Griff kriegen. Mit der schwangeren Lehrerin Erin Greene (Flanagans Ehefrau Kate Siegel) gibt es auf Crockett Island eine zweite Figur, die kürzlich überraschend dorthin zurückkehrt ist, wo ihre Wurzeln liegen.

Rileys Ankunft fällt mit dem Auftauchen eines neuen Priesters zusammen, der den während einer Pilgerreise angeblich schwer erkrankten Inselpfarrer vorübergehend vertreten soll. Vater Pauls (Hamish Linklater) Anwesenheit sorgt alsbald für einen Stimmungswechsel unter den nicht gerade hoffnungsfrohen Menschen. Kurz nach einem heftigen Sturm sieht es noch so aus, als würden lauter tote Katzen am Strand auf ein herannahendes Unglück hindeuten. Bald schon geschieht jedoch ein erstes grosses Wunder, das die Insulaner aus ihrer Lethargie reisst und das nachlassende Interesse an der Bibel wieder befeuert. Ein Wendepunkt, den vor allem die strenggläubige Bev Keane (Samantha Sloyan) herbeigesehnt hat.

Für Unbehagen sorgen vielmehr die um Schmerz, Schuld, Glaubenszweifel und Perspektivlosigkeit kreisenden Gespräche der Charaktere.– Cineman-Filmkritiker Christopher Diekhaus

Nach drei Episoden ist zwar noch nicht genau abzusehen, was im weiteren Verlauf passieren wird. Dass ein gefährlicher Eifer um sich greifen könnte, erscheint aber sehr wahrscheinlich. Aufgrund ihres abgeschiedenen Settings und ihrer religiösen Bezüge weckt die Serie, wohl nicht ungewollt, Erinnerungen an Robin Hardys schräges Folkloreschauerstück «The Wicker Man». Showrunner Flanagan, der auch bei allen sieben Folgen auf dem Regiestuhl sass, geht trotz diverser Anspielungen auf andere Spannungs- und Horrorwerke allerdings eigene Wege. Schockeffekte werden in den ersten Kapiteln sparsam eingesetzt. Für Unbehagen sorgen vielmehr die um Schmerz, Schuld, Glaubenszweifel und Perspektivlosigkeit kreisenden Gespräche der Charaktere.

© Netflix

Die Zeit, die sich der kreative Kopf hinter «Midnight Mass» für die Verunsicherung und die Verletzungen seiner Protagonisten nimmt, lässt erahnen, dass ihm die Geschichte ein persönliches Anliegen ist. Flanagan selbst kam als Messdiener schon früh mit Kirche und Religiosität in Kontakt und hatte später mit Alkoholproblemen zu kämpfen. Der Schrecken der Sucht und die falschen Versprechungen der Bibel treten besonders in den Unterhaltungen zwischen dem nach Erlösung suchenden Riley und Vater Paul zu Tage. Wo andere Filme und Serien nur an der Oberfläche kratzen, dringt die Netflix-Produktion ein ums andere Mal in die Tiefe vor und schaufelt schmerzhaft eindringliche Emotionen frei.

Freunde zackig-knalliger Horrorparaden dürfte der das Grauen nur langsam verdichtende Ansatz verärgern. Wer es hingegen aufregend findet, wenn mehr aus den Figuren heraus Beklemmung entsteht, wird sich wünschen, dass Flanagan in den verbleibenden vier Episoden nicht zu sehr in den Jump-scare-Modus verfällt.

3,5 von 5 ★

«Midnight Mass» ist ab sofort auf Netflix verfügbar.

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