Artikel8. August 2022

Locarno 2022: Autorenfilme und Publikumslieblinge im Schweizer Sommer

Locarno 2022: Autorenfilme und Publikumslieblinge im Schweizer Sommer
© Ex Nihilo - Les Films du fleuve - 2021

Im August ist es Zeit für das Locarno Film Festival. Mitten im Sommer rollt der an sich eher bescheidene Tessiner Ort den roten Teppich für internationale Gäste aus der Filmwelt aus. Die Piazza Grande füllt sich mit einem Meer an gelb-schwarzen Plastikstühlen und erwacht bei Dämmerung zum Leben.

Diese, eine der weltweit grössten Freilichtbühnen, ist Locarnos Markenzeichen. Hier werden die publikumswirksamsten Filme aus dem Programm gezeigt. Den Rest präsentiert das Festival in einer Vielzahl an unterschiedlichen Veranstaltungsorten, die alle ihren eigenen Charme haben. Vom traditionsreichen Kino, über die riesige Mehrzweckhalle bis hin zum den brandneuen Kinopalast, ist alles dabei.

Dieses Jahr feiert das Locarno Film Festival seinen 75. Geburtstag. Das bedeutet aber nicht, dass das international anerkannteste und grösste Filmereignis der Schweiz in starren Traditionen verharrt. In seinem Programm spiegelt es nämlich neueste filmische Techniken wider und gibt weiterhin der jungen Generation an Filmemachern und Filmemacherinnen eine prominente Plattform.

Seit 2021 hat der italienische Filmkritiker und Kurator Giona A. Nazzaro die künstlerische Leitung des Festivals übernommen. Die Filmauswahl seiner nun zweiten Ausgabe, die vom 3. bis 13. August 2022 stattfindet, zeigt, dass er keine Berührungsangst mit dem Genre-Kino hat.

Lead von Teresa Vena

«Apenas el sol» | «Nothing but the Sun»

von Arami Ullon | 75 min

Kurz vor dem Verschwinden

Review von Teresa Vena

Sobode Chiqueno ist ein Angehöriger der Ayores. Heute heisst er Mateo, das ist der Name, dem ihm die «Weissen» gegeben haben, nachdem er wie viele Indigene, die einst im tropischen Wald zwischen Paraguay und Argentinien gelebt haben, in die «Zivilisation» geholt worden ist.

Generationen später hat er vor Augen, wie sich die Lebensweise seines Stammes verändert hat und und wie viele Bräuche, Geschichten und Fertigkeiten zu verschwinden drohen. Er weiss, dass er selbst aktiv werden muss, um mindestens Teile davon für die Nachwelt zu bewahren. Mit einem einfachen Kassettenrecorder gewappnet befragt er Mitglieder seiner Gemeinschaft und nimmt ihre Zeugnisse auf.

Ihm folgt der Dokumentarfilm der paraguayischen Regisseurin Arami Ullón, die in der Schweiz lebt, auf empathische Weise. Die Kamera ist nahe an den eindrücklich von der Sonne, dem Wind und schlichtweg vom Leben gezeichneten Gesichtern.

Man hätte sich eine etwas zurückhaltendere Form gewünscht, eine etwas ruhigere Bildfindung, um den Worten der Protagonisten, oder eigentlich vielmehr ihren Aussparungen, konzentriert lauschen zu können. Denn hört man genau zu, wird einen ein diffuser Schmerz und ein tiefes Gefühl des Verlustes erfassen, die als Mahnmal für unseren Umgang mit der Welt dienen sollten.

4 von 5 ★

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«Taming the Garden»

von Salomé Jashi | 92 min

Garten der Eitelkeit

Review von Teresa Vena

Was für ein surrealistisches Spektakel: Mit enormem Aufwand werden alte, hohe Bäume ausgegraben, um übers Wasser zu einem reichen Mann transportiert zu werden, der sie in seinem Garten wieder einpflanzen will. Das könnte die Geschichte eines fantastischen Spielfilms sein, eine erdachte Dystopie. Sie ist aber die Realität, die die georgische Regisseurin Salomé Jashi in ihrem bildgewaltigen, poetisch-philosophischen Dokumentarfilm einfängt.

Mit einer schon fast ironisch wirkenden Trockenheit zeigt sie, wie eine Schar Männer an den Wurzeln des Baumes hantieren, eine komplizierte Stützkonstruktion verbauen und einer dieser stillen, duldsamen Riesen nach dem anderen über die erdigen Strassen und schliesslich übers Wasser auf eine Reise mit ungewissem Ausgang schicken.

«Taming the Garden» wirft eine Vielzahl von Fragen auf. Ganz konkrete über die technische Machbarkeit eines solchen Vorhabens, wie es im Zentrum des Films steht, aber auch existenzielle, metaphysische, die den Mensch betreffen. Fragen zum Thema Heimat, was bedeutet Entwurzelung und wie passt man sich in einer neuen Umgebung an, ob man sie sich selbst aussucht oder nicht?

Um Gier geht es auch. Wieso können wir etwas Schönes nicht einfach geniessen, ohne es unbedingt besitzen zu wollen? Das Verhältnis des Menschen zur Natur ist gestört, das zeigt der Film weiter. Wir glauben, wir sind ihre Gärtner.

4 von 5 ★

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«Bowling Saturne»

von Patricia Mazuy | 114 min

Ausufernde Gewalt im Bowlingcenter

© Ex Nihilo - Les Films du fleuve - 2021

Review von Walter Rohrbach

Als der Vater stirbt, bietet der ehrgeizige Polizist Guillaume seinem verstossenen Halbbruder Armand die Leitung der von ihm geerbten Bowlingbahn an. Das Erbe ist allerdings kein Segen: Die Beiden geraten in einen atemberaubenden Strudel der Geschehnisse. Ein sehr düsterer Film Noir der Kultregisseurin Patricia Mazuy.

Viele Gemeinsamkeiten haben die beiden Halbbrüder nicht. Einerseits gibt es Guillaume (Arieh Worthalter), der Karriere bei der Polizei macht und sein Leben einigermassen im Griff hat. Armand (gespielt von Achille Reggiani) dagegen, ist der jüngere der Beiden und ihm scheint nicht viel zu gelingen. Er streicht Nachts ziellos um die Häuser und weder seine Stelle noch sein Domizil scheinen geregelt. Ausser des gemeinsamen Vaters verbindet die beiden also nicht sehr viel. Nach dem Tod des Vaters Treffen sie wieder aufeinander – allerdings mit einem sehr überraschenden Ausgang.

Es ist bereits der sechste Spielfilm der Französischen Kultregisseurin Patricia Mazuy. Seit drei Jahrzenten ist sie Filmemacherin und nun hat sie diesen sehr dunklen Film gedreht, der vorwiegend in einer nächtlichen Stadt, einer unterirdischen Bowlingbahn oder in einem düsteren Polizeirevier spielt. Toxische Männlichkeit ist das offensichtliche Thema des Films. Genauer gesagt Gewalt, welche den Serienmörder als auch die Jagdgruppe, welche immer wieder bei der Bowlinganlage auftauchen, zu faszinieren scheint.

Dies alles ist als Ausgangslage überaus interessant und böte die Chance einer geschickten filmischen Analyse: Die expliziten Gewaltszenen und die zu offensichtlich-dargestellten Symboliken und Archetypen allerdings verleiten aber nicht dazu, dass man sich tiefgründig mit den Figuren und der Thematik beschäftigen kann – und so fühlt man sich eher als schaue man einen Montagskrimi als einen Kinofilm.

3 von 5 ★

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«Paradise Highway»

von Anna Gutto | 115 min

Gefährliche Fracht

© Phyw Distribution LTD

Review von Walter Rohrbach

Juliette Binoche und Morgan Freeman unterwegs auf den staubigen Highways in den USA: Ihre Gegner sind eine Gruppe von skrupellosen Menschenhändlern. Ein packender Thriller mit grossartiger Besetzung schildert interessante soziale Milieus – auch wenn die Fahrt etwas zu lange dauert und hier und da arg ins Holpern gerät.

Sally sieht sich gezwungen in ihrem LKW eine illegale Fracht zu schmuggeln. Schuld ist ihr Bruder, der im Knast sitzt und mit dem Tod bedroht wird. Um ihn zu retten nimmt Sally (Juliette Binoche) den Auftrag an. Zu ihrem Erstaunen aber ist die Fracht ein kleines Mädchen mit dem Namen Leila. Als dann der FBI-Agent (Morgan Freeman) bei der Suche nach einem Ring von Menschenhändlern auf die Spur des LKWs stösst, kommt der Thriller, der sich vorwiegend auf den US-Highways abspielt, so richtig in Fahrt.

Für die Regisseurin und Autorin Anna Gutto ist dieser Film der erste in Spielfilmlänge. Und sie hat dabei einen interessanten sozialen Hintergrund gewählt: Die Einblicke in die Lebenswelt der einsamen LKW-Fahrerin Sally und wie sie sich in dem Männerberuf und mit dem harten Leben arrangiert ist überaus aufschlussreich.

Allerdings schafft es selbst Binoche, trotz sehr guter Schauspielleistung nicht, der Figur Sally genügend Leben einzuhauchen. Dazu ist der Plot einfach zu wenig stringent und wechselt zu häufig zwischen den verschiedenen Protagonisten hin und her. Auch hat der Film mit beinahe zwei Stunden Laufzeit etwas Überlänge – was wirklich Schade ist, denn packend ist die Geschichte allemal.

3 von 5 ★

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«Il Pataffio»

von Francesco Lagi | 117 min

Die Leiden eines Adligen

© 2022 Vivo film, Colorado Film Production, Umedia

Review von Walter Rohrbach

Ein Stalljunge der durch die Heirat zum Adligen aufgestiegen ist und nun sein Schloss in Besitz nehmen will erlebt einige unliebsame Überraschungen: Die versklavten Bauern sind ganz und gar nicht begeistert und das Schloss ist auch eher eine Bruchbude. Die italienische Komödie von Francesco Lagi spielt im fantasievollen Mittelalter.

Eine Karawane von Soldaten und Höflingen ist auf staubigen Strassen unterwegs. Führer der Truppe ist der ehemalige Stallbursche und Neuadlige Arroi de Berlocchio de Caguelance, Margraf von Triroupette (Lino Musella). Begleitet wird er von der korpulenten Bernarda de Montbraquemart (Viviana Cangiano), die ihm seinen Aufstieg ermöglicht hat. Ziel des Margrafen ist es, sein geerbtes Schloss in Besitz zu nehmen. Doch ihr Schloss ist eine arg lädierte Bruchbude und die Bauern sind nicht bereit, sich beherrschen zu lassen.

Dabei amtet der Margraf auch noch höchst ungeschickt und er heizt durch seine rohe Regentschaft die Konflikte noch aktiv an. Das Ganze ergibt eine sonderbare Komödie rund um Gelüste, heilige Sehnsüchte, unmotivierte Untertanen und vor allem um den Kampf um Macht und Freiheit.

Positiv gedeutet könnte man den Film vom italienischen Regisseur Francesco Lagi als eine satirische Parodie auf die italienische Machtpolitik deuten. Leider aber erinnert das Dargebotene allzu häufig an eine mittelalterliche Theateraufführung und ist nur phasenweise komisch und fesselnd. Dies liegt sicher auch an den zwei Stunden Laufzeit, die deutlich zu lange ist.

2,5 von 5 ★

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«Návštěvníci» | «The Visitors»

von Veronika Lišková | 85 min

Herausforderung Migration

© Cinémotif films s.r.o.

Review von Walter Rohrbach

Der Regisseurin Veronika Lišková ist ein berührender und eindrücklicher Dokumentarfilm über Migration und Klimawandel gelungen. Anhand der jungen Anthropologin Zdenka, welche mit ihrer Familie für ein Forschungsprojekt nach Spitzbergen zieht, zeigt sie hautnah die Schwierigkeiten der Migration auf – ein absolut gelungenes Porträt das unter die Haut geht.

Zdenka zieht samt ihrer Familie nach Spitzbergen (Norwegen) um zu untersuchen, wie sich das Leben durch den Klimawandel in den Polarregionen verändert. Für ihr Forschungsprojekt führt sie Interviews mit den Dorfbewohnenden durch. Zunehmend fällt es ihr aber schwer die Distanz bei den Interviews zu ihren Untersuchungen zu wahren, da sie selbst als Teil der Bevölkerung von der harten Migrationspolitik Norwegens betroffen ist. Denn nach anfänglichem Enthusiasmus für die Natur und das Leben in der neuen Heimat, muss sie feststellen, dass sich nicht nur das Klima in Form von Permafrost verändert, sondern auch das Klima gegenüber den Neuankömmlingen ein wiederholtes Thema ist.

Mit viel Engagement integriert sich Zdenka mit ihrer Familie in der lokalen Gemeinschaft: organisiert Sprachkurse, singt im lokalen Chor und geht zu den Gottesdiensten. Dabei stösst sie aber immer wieder auf Ablehnung und auf Widerstand – vor allem von Seiten der Politik und Behörden.

Der Regisseurin Veronika Lišková ist mit dem Porträt über Zlada ein eindrücklicher und aufschlussreicher Film gelungen, der inhaltlich und auch visuell überzeugt. Mit beeindruckenden Bildern zeigt sie die karge Landschaft, in der auch immer eine Melancholie mitschwingt. Diese Bilder werden kontrastiert zu den Szenen aus Zladas Familienleben: die nah, authentisch und ehrlich die Mechanismen und Gefühle einer Migrationserfahrung schildern.

4,5 von 5 ★

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«Petites»

Julie Lerat-Gersant | 90 min

Auf einen Schlag erwachsen werden

© Escazal Films / 75e Locarno Film Festival

Review von Théo Metais

Die Filmemacherin Julie Lerat-Gersant, die beim 75. Festival von Locarno vorgestellt wurde, präsentiert ihren Film Petites, die Erzählung einer Mutterschaft, die nicht wie alle anderen ist. Camille ist nämlich erst 16 Jahre alt.

Julie Lerat-Gersant, eine Theaterfrau und Mitbegründerin der Theatergruppe «La Piccola Familia», stellte dieses Jahr ihren ersten Langfilm in Locarno in der Auswahl «Concorso Cineasti del presente» vor. Eine anspruchsvolle Kategorie, die von der Gegenwart und der Realität erzählen will. So erzählt «Petites» von den besonderen Leben und Mutterschaften, die in einem Mütterzentrum in Cherbourg zusammenleben. Eine brutale und permissive Einrichtung, die vom Faustkampf dieser Mütter und der rückwärtsgewandten Zärtlichkeit, die sie einander entgegenbringen, geprägt ist. Ein Mikrokosmos, der von Romane Bohringer, einer komplexen Matrone mit ruhigem Feuer, inszeniert wird.

«Da ist nichts drin, da ist kein Leben», sagte sie blitzschnell zur Richterin. Inmitten dieser neun Monate in der Schwebe, dieser unerschöpflichen Adoleszenz und der Mutterschaft, die ihr aufzwingt, eine andere zu sein, schlägt sich Camille so gut es geht durch. Auf Inline-Skates und mit einer Zigarette im Mund ist sie explosiv und frech. Sie muss Sinn machen, akzeptieren, oder Entscheidungen treffen, denn ihr Körper verändert sich. Der Trost ihrer Mutter hätte helfen können, aber am Vorabend der Geburt ihres Kindes wiederholen sich die Muster.

Getragen von den atmosphärischen Kompositionen des Musikers Superpoze, der sehr guten Besetzung und der schlichten Regie bietet «Petites» eine vielfältige Variation von den Höhen und Tiefen im Leben. Indem Julie Lerat-Gersant die Widrigkeiten dieser Teenagermütter, ihre (familiäre und psychologische) Isolation und ihre Zerbrechlichkeit angesichts des bevorstehenden Geburtstermins würdigt, bricht sie die romantisierende Wunschvorstellung der Mutterschaft auf. In einem Brief an ihr Kind fasst Camille alles zusammen: «Ich habe davon geträumt, auf einen Schlag erwachsen zu werden».

4 von 5 ★

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«Balıqlara xütbə» | «Sermon to the Fish»

von Hilal Baydarov | 90 min

Nach dem Krieg

© Ucqar Film

Review von Théo Metais

Nach «In Between Dying» und «Crane Lantern» präsentiert der Filmemacher Hilal Baydarov ein neues Traummärchen; eine schwüle Fabel über die Verwüstungen der Ölförderung.

Davud (Orkhan Iskandarli) kehrt siegreich aus dem Krieg zurück, doch von seinem Dorf und den Menschen, die er kannte, ist nichts mehr übrig. Eine mysteriöse Krankheit verwüstete und zerfrass den Boden, die Menschen, das Wasser und die Fische. Das Land ist trostlos und wirkt wie ein lebloser Albtraum.

Für seinen neuen Film ist Hilal Baydarov mit seiner Filmcrew in die Berge von Aserbaidschan zu den Ölquellen gezogen, welche den Ursprung allen Übels dieses Filmes bilden. Trotz der zahlreichen Verstorbenen und den zukunftslosen Perspektiven, arrangieren sich Davud und seine Schwester mit dieser Dystopie.

Während sie beginnt mit den Elementen zu sprechen und den Baum bittet, ihr die göttliche Stimme zurückzubringen, verliert ihr Bruder den Verstand und repetiert in Endlosschleife die Namen seiner Kameraden die im Krieg in Bergkarabach gefallen sind. Das ganze Szenario wird mit dem immerwährenden Bellen eines Hundes untermalt, der einsam neben den brennenden Gräbern vor sich hinvegetiert.

4 von 5 ★

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«Semret»

von Caterina Mona | 85 min

Review von Walter Rohrbach

Semret ist eine alleinerziehende eritreische Mutter. Nachdem sie mit ihrer Tochter in die Schweiz gekommen ist, versucht sie erfolgreich ein neues Leben fern der Heimat aufzubauen. Allerdings mit einigen Schwierigkeiten – ihr Fluchttrauma trägt sie immer noch tief in sich. Ein spannendes Sozialdrama der Zürcher Regisseurin Caterina Mona.

Semret (Lula Mebrahtu) konnte nach ihrer Flucht aus Eritrea Fuss fassen und lebt mit ihrer Tochter Joe (Hermela Tekleab) in Zürich. Alles läuft soweit gut: Tagsüber arbeitet sie in einem Spital und abends studiert sie für die Ausbildung zur Hebamme. Allerdings drängt Joe immer stärker darauf, mehr über ihre Herkunft und Vergangenheit zu erfahren. Sie ist im Teenageralter und setzt sich intensiv mit der Frage ihrer Identität und Zugehörigkeit auseinander. Dies allerdings konfrontiert Semret immer wieder mit ihrer schwierigen Vergangenheit und sie hat Angst dadurch ihr gewohntes, zurückgezogenes Leben als Immigrantenmutter zu verlieren.

Das spannende Sozialdrama ist der erste Langspielfilm der Zürcher Regisseurin Caterina Mona. Dabei zeigt sie viel Fingerspitzengefühl bei der Schilderung der Themen Migration, Integration und Träume. Beispielsweise sind die Dialoge zwischen Semret und Joe ein Mix aus Schweizerdeutsch und Tirginva. Eindrücklich gelungen aber sind die Sequenzen in denen sich Semret mit ihrer schwierigen Vergangenheit auseinandersetzen muss. Dabei wird ihr Trauma nicht explizit erwähnt, sondern tritt immer wieder diffus in Erscheinung – dies ist unbestritten auch ein Verdienst von Lula Mebrahtu, die einfach fantastisch spielt.

4 von 5 ★

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«Piaffe»

von Ann Oren | 86 min

Frau und Pferd

© Schuldenberg Films

Review von Teresa Vena

Weil ihre Schwester in einer psychiatrischen Klinik ist, muss Eva deren Auftrag, die Vertonung eines Werbespots für Antidepressiva, in dem ein Pferd die Hauptrolle spielt, übernehmen. Ihr erster Versuch schlägt fehl, der Auftraggeber rät ihr, sich echte Pferde anzuschauen. Das macht sie auch und entwickelt sogleich eine besondere Faszination für die Tiere. Sie kann sich dermassen in sie hineinversetzen, dass ihr bald selbst ein langer Schweif wächst. Nach kurzer Beunruhigung lernt sie, diesen zu akzeptieren und merkt gleichzeitig, dass er ein nützliches Mittel für die sexuelle Annäherung zum genauso eigenbrötlerischen Botaniker ist, zu dem sie sich hingezogen fühlt.

Ann Oren hebt in ihrem Spielfilmdebüt die konventionellen Grenzen zwischen den Geschlechtern auf. Sie spielt mit den Erwartungen des Zuschauers, interpretiert sexuelle Fetische neu und schafft damit einen geschützten Ort für Gedankenexperimente und die Auseinandersetzung mit verschiedenen Formen von Sinnlichkeit. Gänzlich überzeugen kann das Resultat allerdings leider nicht. Der Film fühlt sich an wie ein nicht zu Ende gedachtes Fragment. Dennoch erinnert er formal und auch in seiner allgemeinen Stimmung an Klassiker des europäischen Kinos und insbesondere an Werke der französischen Nouvelle Vague.

3 von 5 ★

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«Last Dance»

von Delphine Lehericey | 84 min

Lass mich los und lass mich tanzen

Review von Laurine Chiarini

15 Jahre nach ihrem ersten Film kehrte die Schweizerin Delphine Lehericey nach Locarno zurück, diesmal auf die Piazza Grande, mit der Geschichte von Germain, einem Witwer, der eine ganz eigene Art hat, die Verbindung zu seiner verstorbenen Frau am Leben zu erhalten.

«Es ist wie in dem Film Ratatouille: Jeder kann kochen», erklärt Delphine Lehericey die Parallelen zwischen Kochen und zeitgenössischem Tanz. Diese Disziplin, die für alle zugänglich ist, kann auch von den Eigenheiten jedes Einzelnen profitieren – ein Konzept, das der Regisseurin und der spanischen Choreografin La Ribot, die hier ihre eigene Rolle spielt, sehr am Herzen liegt.

Aufgrund eines poetischen und gegenseitigen Versprechens fühlt sich Germain verpflichtet, das zu Ende zu bringen, was seine Frau begonnen hat. Daher ersetzt er kurzfristig ihren Platz bei der Vorbereitung einer Aufführung einer zeitgenössischen Tanzgruppe. Die Beziehung der beiden jungen Liebenden war von Beginn anintensiv, so kommunizieren sie mit süssen Worten und tragen die Initialen des anderen immer bei sich. Kunst sublimiert Erinnerungen, verschönert Kommunikation und lässt sie über den Tod hinaus fortbestehen.

Eine weitere Schweizer Präsenz in den Credits ist der Schauspieler Kacey Mottet Klein. Dieser ist seit Ursula Meiers «Home» von 2008 deutlich gewachsen und spielt ein Mitglied der Truppe, den Coach und Vertrauten von Germain. Bemerkenswert ist auch die Anwesenheit von Déborah Lukumuena, die zuletzt mit Gérard Depardieu in «Robuste» zu sehen war. Die Geschichte handelt von einem Trauerfall. Die Erzählform hingegen ist die einer Komödie, die es versteht, die Distanz zu ihren Protagonisten richtig zu dosieren.

Der Regisseurin gelingt es, aus einem schweren Thema einen lustigen und leichten Film zu machen, dem es nicht an Taktgefühl mangelt. Wenn Germains Kinder ihn zur Verzweiflung bringen, dann deshalb, weil sie ihn selbst wie ein Kind behandeln: Die Truppe, ein neutraler Ort, an dem jeder akzeptiert wird und das Urteilsvermögen geschwächt ist, wird ihm eine zweite Familie bieten. «Last Dance» ist gut geschrieben, vermeidet elegant dramatische Auswüchse, ist von 7 bis 77 Jahren zugänglich und hält uns einen zarten Spiegel vor, in dem jeder ein kleines Stück seiner Reflexion finden wird.

4 von 5 ★

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«Une femme de notre temps»

von Jean Paul Civeyrac | 96 min

Diane, eine Jägerin mit wenig Vorstellungskraft

© Moby Dick Films – Iliade et Films

Review von Laurine Chiarini

Der Film «Une femme de notre temps», der in Locarno auf einer gut gefüllten Piazza Grande gezeigt wurde und den Weg einer Pariser Polizeikommissarin nachzeichnet, die von ihrem Ehemann betrogen wird, löste gemischte Reaktionen aus.

Laut Freddy Buache, Mitbegründer der Cinémathèque suisse, war eine der grössten Sünden, derer sich ein Film schuldig machen konnte, die der Transparenz. Ein Film ohne Subtilität, dessen Absichten so offensichtlich sind, dass sie schliesslich in den Augen brennen, nimmt dem Film seinen Geschmack und riskiert schnell, den Zuschauer am Strassenrand stehen zu lassen. Wenn man sich an diese Definition hält, wird eine Frau unserer Zeit, die übrigens nichts mit dem gleichnamigen Helden aus Michail Lermontows Roman gemein hat, fast unsichtbar, weil der Film so durchsichtig ist.

Doch was hat Sophie Marceau, die seit einiger Zeit nicht mehr gedreht hat, dazu bewogen, dieses Drehbuch zu verfilmen? Die Schauspielerin nannte die Integrität einer Heldin, die für ihre Überzeugungen bis zum Äussersten geht, und ein Drehbuch «wie die Flugbahn eines Pfeils: präzise, das genau ins Schwarze treffen wird». Leider bleiben die Dialoge, selbst die spärlichen, auf einem so hohen Niveau der Ich-Form, dass die Protagonisten, insbesondere Hugo, ihr Ehemann, gespielt von Johan Heldenbergh, den Eindruck erwecken, als würden sie ihre lustlosen Zeilen auf rein mechanische Weise abspulen. Die Kameraführung aus der Untersicht, lange Kamerafahrten über prächtige Hauskulissen und die absichtlich bedrohliche Wirkung, die an jedes noch so kleine Element der Kulisse geknüpft ist, machen den Film schliesslich schwer verdaulich.

Während die Geschichte der betrogenen, rachsüchtigen Frau - die man ohne weiteres bei einem Chabrol oder sogar Hitchcock hätte finden können - durchaus Sinn macht, wird sie in der Erzählung durch eine pompöse und übertriebene Lyrik zerstört, angefangen beim Soundtrack: Die Musik unterstreicht nicht nur die Handlung, sondern ertränkt die meisten Szenen in einer Flut dramatischer Akkorde und wird so schnell schwer erträglich, ohne letztlich angesichts des dürftigen Drehbuchs viel zu betonen. Dieser Wille, jedes Element, sei es die Hauptdarstellerin oder ein Glas Wasser, mit Lust und Kraft zu füllen, nivelliert allein schon jede Hoffnung auf ein mögliches Spiel mit Nuancen.

2 von 5 ★

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«De noche los gatos son pardos»

von Valentin Merz | 110 min

Ausufernde Orgien

© 2022 Vinca Film

Review von Walter Rohrbach

Eine überaus kunterbunte Crew dreht in den französischen Wäldern einen erotischen Kostümfilm und muss sich plötzlich mit einem Verbrechen auseinandersetzen. Der Schweizer Regisseur Valentin Merz hat mit dem Film ein wildes Potpourri aus homoerotischen, zombiehaften und kriminellen Szenen erschaffen, allerdings fehlt es an Stringenz.

Bereits die ersten Szenen zeigen, dass dies kein herkömmlicher Film werden soll, was das Team in der französischen Provinz dreht: Es wird geleckt, geküsst und fröhlich gefummelt. Als allerdings Valentin, der Regisseur des erotischen Kostümfilms plötzlich verschwindet, gerät die ganze Produktion ins Stocken. Während die Polizei vor Ort ermittelt, geht der Dreh dennoch weiter, allerdings mit einer erstaunlichen Wendung – wie sich noch zeigen wird.

Der Regisseur Valentin Merz ist in Zürich geboren und feiert mit «De Noche los Gatos son Pardos» (Im Dunkeln sind die Katzen grau) sein Langspielfilmdebut. Dieses präsentiert sich ausgesprochen bunt und mäandriert zwischen verschiedenen Genres: neben lustvollen erotischen Szenen, verwebt sich die Kriminalgeschichte, bis hin zu Horror- und Zombiefilmszenen. Allerdings geht dies leider auf die Kosten der Stringenz und man kann leicht den Überblick verlieren.

3 von 5 ★

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«Matter Out of Place»

von Nikolaus Geyrhalter | 110 min

Die Welt in Müll

© NGF

Review von Walter Rohrbach

Der Dokumentarfilm von Nikolaus Geyrhalter führt uns in atemberaubenden Bildern um die Welt: Angefangen in Solothurn zeigt er, wie global mit Müll umgegangen wird. Wie und ob er gesammelt, verbuddelt, verbrannt oder getrennt wird. Dabei zählt er vollumfänglich auf die Sprache der Bilder. Das funktioniert zwar sehr gut, kann aber auf die Dauer etwas monoton werden.

Ein Bagger auf einer Wiese in Solothurn macht den ersten Stich. Danach folgt ein Zweiter und ein Dritter. Zwei Männer mit Helm besprechen akribisch das gelockerte Erdgut. Beim Gespräch und mit dem weiteren Material was der Bagger auf die Erdoberfläche befördern wird, wird klar: Diese Wiese war früher eine Abfallgrube und auch in der sauberen Schweiz hat man den Müll jahrzehntelang einfach vergraben.

Der Dokumentarfilm von Nikolaus Geyrhalter führt uns aber nicht nur die Abfallentsorgung in der Schweiz vor, sondern zeigt uns die extremen Abfallauswüchse bis in die abgelegensten Orte: Von Kathmandu in Nepal, Albanien, Malediven bis hin zum Burning Man Festival in der Wüste Nevadas werden die Abfallberge dieser Welt in eindrücklichen Bildern dargestellt. Der Titel des Films «Matter out of Place» übrigens, bezeichnet Material das nicht an diesen Ort gehört.

Dabei verzichtet der Wiener Regisseur Geyrhalter wie bei ihm üblich auch bei diesem Film auf Kommentare, Off-Stimme oder Musik. Gemäss seiner Methode will er die Räume und Menschen selbst wirken lassen. Dies funktioniert gerade bei diesem Thema sehr gut, da er spektakuläre Bilder zeigt und besonders der Abfall und die Natur visuell interessante Kontrastpunkte setzen: Ein kristallklarer Bergsee kontrastiert von einem plastikverschmutzten Strand. Allerdings können die Bilder, ganz so ohne Kommentare und Schilderungen mit der Zeit auch etwas monoton werden.

3,5 von 5 ★

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