Artikel16. November 2021

Filmtagebuch: Der Horror von London

Filmtagebuch: Der Horror von London
© 20th Century Fox Switzerland | 20th Century Fox Switzerland

Denkt man an London, hat man als Erstes wahrscheinlich eine pulsierende Metropole vor Augen, einen Schmelztiegel, der so viele unterschiedliche Einflüsse zu bieten hat. Eben hier war allerdings auch Jack the Ripper, einer der berühmtesten Serienkiller der Geschichte, aktiv – weshalb es nicht verwundern muss, wenn auf der grossen Leinwand regelmässig die düsteren Seiten der verführerischen Weltstadt ins Visier geraten.

So wie in Edgar Wrights neuer Regiearbeit «Last Night in Soho», die in die Abgründe der oft verklärten Swinging Sixties schaut und eine junge, frisch in London eingetroffene Modestudentin auf eine ebenso rätselhafte wie furchteinflössende Zeitreise schickt. Den Kinostart dieses psychologischen Horrorstreifens wollen wir nutzen, um einige andere schaurige London-Filme vorzustellen.

von Christopher Diekhaus

1. «Ekel» (1965)

Darum geht’s: Die in einem Schönheitssalon als Maniküre arbeitende Carol (Catherine Deneuve) teilt sich mit ihrer älteren Schwester Hélène (Yvonne Furneaux) in London eine Wohnung und scheut sich davor, mit ihrer Umgebung zu interagieren. Besonders Männer versetzen die junge Frau in Panik. Ihrem Verehrer Colin (John Fraser) zeigt sie die kalte Schulter. Und Hélènes Geliebten Michael (Ian Hendry) findet sie unausstehlich, da er sich immer mehr in ihrem Appartement breitmacht. Als ihre Schwester und ihr Lover eine Reise nach Italien unternehmen, bleibt Carol verängstigt zurück und schlittert schon bald in eine gefährliche psychische Abwärtsspirale hinein.

Sehenswert, weil… der junge Roman Polanski mit seinem ersten englischsprachigen Werk einen radikalen, die Freiheitsgefühle der Swinging Sixties negierenden, in der Hauptrolle eindringlich gespielten Seelentrip abliefert, der die Entfremdung einer Ausländerin in der Millionenmetropole London schonungslos greifbar macht. Geht der Film anfangs hin und wieder noch nach draussen, verlagert sich die Handlung zunehmend einzig in die Wohnung der Protagonistin, die zu einem waschechten Gruselkabinett mutiert.

Risse im Mauerwerk, umhergeisternde Männer und Hände, die aus den Wänden kommen – konsequent bindet uns der Psychothriller an die Perspektive der in Wahnvorstellungen abdriftenden Carol und erzeugt dadurch ein Klima der permanenten Verunsicherung. Übrigens: «Ekel» bildete den Auftakt zu Polanskis sogenannter Appartement-Trilogie, die von «Rosemary‘s Bab» und «Le Locataire» komplettiert wird.

Verfügbar auf Prime On Demand

2. «From Hell» (2001)

Darum geht’s: Der nach dem Tod seiner Ehefrau und seines Kindes dem Opium verfallene Inspektor Frederick Abberline (Johnny Depp) sieht sich im Jahr 1888 mit einer besonders delikaten Mordserie konfrontiert. Der Killer, der im Armenviertel Whitechapel unter Prostituierten sein Unwesen treibt, scheint die Leichen auf anatomisch professionelle Weise zu verstümmeln. Im Zuge seiner Nachforschungen kreuzt der Ermittler den Weg der Freudendame Mary Kelly (Heather Graham), die alle bisherigen Opfer kannte. Als sich die beiden näherkommen, sorgt sich der Polizist um Marys Sicherheit.

Sehenswert, weil… es den regieführenden Brüdern Albert und Allen Hughes gelingt, ein schillernd-beunruhigendes Panoptikum des viktorianischen London zu entwerfen. Mit grossem Aufwand und bemerkenswertem Stilbewusstsein tauchen sie in die finsteren Gassen und die prunkvollen Herrschaftssäle ein, die in dieser Interpretation der Jack-the-Ripper-Geschichte mehr und mehr zusammenfinden.

Die optische Wucht spiegelt die Comicherkunft des Films, der auf einer Graphic Novel von Alan Moore und Eddie Campbell basiert. Wie die Faust aufs Auge passt freilich auch die Besetzung Johnny Depps in der Rolle des real existierenden Frederick Abberline, kann der Hollywood-Star als in Visionen nach Hinweisen suchender Polizist doch einmal mehr seiner Vorliebe für exzentrische Auftritte ausleben.

Zur ausführlichen Kritik

Verfügbar auf Netflix

3. «Shaun of the Dead» (2004)

Darum geht’s: Der im Londoner Norden wohnende Elektronikfachmann Shaun (Simon Pegg) kommt einfach nicht aus dem Quark, hängt oft in seiner Stammkneipe, dem «Winchester», ab und vertreibt sich die Zeit vor allem mit seinem faulen Mitbewohner Ed (Nick Frost). Shauns Freundin Liz (Kate Ashfield) gibt ihm eines Tages den Laufpass, weil sie seine Ziellosigkeit nicht länger mitansehen kann. Ausgerechnet jetzt wird die britische Metropole von einer Zombieapokalypse heimgesucht. Shaun und Ed wollen Zuflucht in ihrem Lieblingspub suchen und gabeln unterwegs Shauns Mutter Barbara (Penelope Wilton), seinen ungeliebten Stiefvater Philip (Bill Nighy), Liz sowie deren Mitbewohner Dianne (Lucy Davis) und David (Dylan Moran) auf.

Sehenswert, weil… Popkulturfan Edgar Wright noch vor dem grossen, durch den Erfolg von «The Walking Dead» ausgelösten Zombiehype das Motiv der wandelnden Untoten mit auf herrlich absurde Weise persifliert. Verneigungen vor den einflussreichen Werken dieses Horrorsubgenres finden Eingang in die Handlung.

«Shaun of the Dead» ist aber weit entfernt von einer Verweise aneinanderreihenden Nummernrevue. Die Komik generiert sich nicht nur aus dem Verhalten der die Londoner Strassen und Gärten flutenden Zombies, sondern auch aus den teilweise unbeholfenen Reaktionen der Protagonisten, denen man dennoch kräftig die Daumen drückt, die Apokalypse in ihrem geliebten Pub zu überleben.

Verfügbar auf Prime

4. «28 Weeks Later» (2007)

Darum geht’s: 28 Wochen nach dem verheerenden Ausbruch des sogenannten Wut-Virus, das Menschen in wilde Bestien verwandelt und zu einer dramatischen Entvölkerung auf dem britischen Festland geführt hat, gilt die Region als infektionsfrei. Unter Führung des US-Militärs soll eine NATO-Truppe die Wiederbesiedlung und den Neuaufbau koordinieren und überwachen. Den Geschwistern Tammy (Imogen Poots) und Andy (Mackintosh Muggleton) gelingt es, aus einer in London eingerichteten Sicherheitszone zu entkommen. Die beiden suchen ihr Elternhaus auf und treffen dort völlig unverhofft auf ihre tot geglaubte Mutter Alice (Catherine McCormack). Als diese nur wenig später Tammys und Andys Vater Don (Robert Carlyle) mit dem Virus ansteckt, bricht abermals blutiges Chaos aus. Die Militärärztin Scarlet (Rose Byrne) setzt alles daran, Tammy und Andy zu beschützen.

Sehenswert, weil… der wenig zimperliche Endzeitschocker den Ball des Vorgängers «28 Days Later» gekonnt aufnimmt und die Intensität des Szenarios noch zu steigern vermag. Auf die Phase der Ruhe folgen irrwitzige, mitreissende Handkamerabilder und schnelle Schnitte, die das Ausmass der Panik und der Desorientierung im verwüsteten London direkt auf den Zuschauer übertragen.

Der auch am Drehbuch beteiligte Regisseur Juan Carlos Fresnadillo interessiert sich nicht nur für die deftigen, starke Nerven erfordernden Gore-Effekte, sondern will auch zeigen, wie schnell in einer derartigen Ausnahmesituation der menschliche Zusammenhalt bröckelt. Schon der Einstieg, der auf eine harte Entscheidung einer Figur hinausläuft, geht durch Mark und Bein.

Zur ausführlichen Kritik

5. «The Broken» (2008)

Darum geht’s: Das Leben der jungen Radiologin Gina McVey (Lena Headey) scheint in normalen Bahnen zu verlaufen. Nach der Arbeit erblickt sie eines Tages jedoch in einem vorbeifahrenden Wagen eine Frau, die ihr zum Verwechseln ähnlich sieht. Kurzerhand verfolgt sie die Unbekannte bis in deren Wohnung und entdeckt dort ein Bild von sich und ihrem Vater John (Richard Jenkins). Verstört ergreift Gina die Flucht und baut mit dem Auto einen Unfall, der zunächst alle Erinnerungen an das Gesehene auslöscht. Als sie aus dem Krankenhaus kommt, erkennt sie ihren Freund Stefan (Melvil Poupaud) nicht mehr wieder und hegt den Verdacht, verfolgt zu werden.

Sehenswert, weil… der in einem oft nasskalten London angesiedelte Horrorthriller ein vor allem visuell spannendes Spiel mit dem beliebten Erzählbaustein des Doppelgängers treibt. Was, wenn ich nicht einzigartig bin? Wenn es eine zweite Version meiner selbst gibt? Allein diese Fragen und Gedanken sind beunruhigend, da sie an menschlichen Urängsten rütteln.

Regisseur und Drehbuchautor Sean Ellis lässt in seiner Geschichte zwar ein paar frustrierende Lücken, die man ihm als Bequemlichkeit auslegen kann, kreiert über eine ausgeklügelte Bildsprache und ein intensives Sounddesign allerdings eine rätselhaft-beklemmende Atmosphäre. Nicht neuartig, aber durchaus effektiv setzt «The Broken» das Motiv des Spiegelns ein.

Verfügbar auf Prime

6. «The Limehouse Golem» (2016)

© IMDb

Darum geht’s: Ende des 19. Jahrhunderts versetzt ein mysteriöser Mörder, dem schnell übernatürliche Fähigkeiten zugeschrieben werden, das Londoner Hafenviertel Limehouse in Aufruhr. Als Scotland Yard mit den Ermittlungen nicht vorankommt, wird der Fall dem unbeliebten Inspektor John Kildare (Bill Nighy) übertragen, der offenkundig als Sündenbock für ausbleibende Erfolge herhalten soll. Nichtsdestotrotz geht er seine Recherchen mit Tatendrang an und findet schnell eine Spur, die ihn in das Umfeld des Varietékünstlers Dan Leno (Douglas Booth) führt. Eben dort war auch die junge Elizabeth Cree (Olivia Cooke) aktiv, die inzwischen allerdings im Gefängnis auf ihre Hinrichtung wartet, da sie mutmasslich ihren Ehemann John (Sam Reid) vergiftet hat. Kildare hegt den Verdacht, dass der tote Bühnenautor der unheimliche Limehouse-Killer gewesen sein könnte.

Sehenswert, weil… der auf einem Roman Peter Ackroyds beruhende, von den Taten Jack the Rippers inspirierte Historienthriller eine zwischen ausschweifender Unterhaltung und Zwielicht pendelnde Welt zum Leben erweckt.

Ähnlich wie in «From Hell» sorgen die stimmigen Kostüme und das starke Szenenbild für den richtigen stimmungsvollen Hintergrund, vor dem sich eine eigentlich recht konventionelle, aber verschachtelt erzählte Kriminalgeschichte entspinnt. Ein Blick für kleine verspielte Details und das aufrichtige Interesse an der damals omnipräsenten Unterdrückung von Frauen werten den von Juan Carlos Medina inszenierten Film entscheidend auf.

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