Artikel25. Mai 2022

Cannes 2022: Einblick in die Internationalen Filmfestspiele an der Côte d'Azur

Cannes 2022: Einblick in die Internationalen Filmfestspiele an der Côte d'Azur
© Xenix Film

Jährlich kommen scharenweise Touristen in die kleine Küstenstadt an der Côte d'Azur. Entlang der Croisette laden Luxushotels und Restaurants zum Flanieren und zum Nachspüren des berühmten französischen «Savoir vivre» ein. Hier ist auch einer der wichtigsten Filmtreffpunkte beheimatet: Die Internationalen Filmfestspiele von Cannes zählen zu den bedeutendsten Filmfestivals weltweit.

Das Cannes Filmfestival ist die Anlaufstelle für internationale Stars – dieses Jahr macht vor allem Tom Cruise mit seinem «Top Gun: Maverick» Furore – und ihre Filme. Nachdem die Ausgabe von 2020 wegen Corona ausfallen musste, die von 2021 mit weniger als die Hälfe der Besucher auskam, kehrt dieses Jahr die Filmindustrie auch mit Vertretern aus Übersee zurück.

Angesichts der von dem Krieg in der Ukraine definierten Realität bleibt es schwer, an die alte Normalität anzuknüpfen. Doch das Festival und seine Besucher versuchen sich in diesem Spagat – mit einem vielseitigen Programm.

Texte: Teresa Vena

«Coupez!»

Zombies mit Bauchschmerzen und Alkoholfahne | 111 min

JMH

von Michel Hazanavicius

Ein Film über einen Film, der wiederum auf einem anderen Film basiert. Filme über Dreharbeiten sind ein beliebtes eigenes Genre, nicht immer ist dabei das Resultat für Menschen ausserhalb der Filmbranche interessant genug. In diesem Fall geht es um die Produktion eines Zombiefilms, die einige Schwierigkeiten mit sich bringt.

Ein durchschnittlicher Regisseur, der sein Geld mit sentimentaler, reisserischer Werbung verdient, wird angefragt, einen erfolgreichen japanischen Horrorfilm für den westlichen Markt nachzudrehen. Seine Versuche, etwas Eigenes einzubringen, scheitern an der rigorosen japanischen Produzentin, die sogar verlangt, dass die original japanischen Namen der Protagonisten beibehalten werden.

Um die Neu-Interpretation des japanischen Films «One Cut of the Dead» von Shinichiro Ueda gab es lange vor seiner Weltpremiere erste Kontroversen. Der ursprüngliche Titel sollte «Z (Comme Z)» lauten. Nachdem dieser Buchstabe zum russischen Kriegssymbol in der Ukraine geworden ist, war er daher verpönt. Man muss nun sagen, das war viel Lärm um nichts. «Coupez!» kann es mit seinem Vorbild nicht aufnehmen.

Die Stärke des Letzteren ist sein trockener Humor und die liebevolle Figurenzeichnung. Davon ist nichts mehr zu spüren. Stattdessen macht er sich «Schulterklopferhumor», der sich sexueller Anspielungen und Witzen um Durchfall, Kotzen und Saufen bedient, zu eigen. Zu sehr verfällt diese französische Version des Stoffes in Klamauk und verliert damit jeden Charme..

1 von 5 ★

«Return to Seoul»

Die vielen Facetten eines Ichs | 115 min

von Davy Chou

Der französisch-kambodschanische Regisseur Davy Chou ist seit einigen Jahren ein häufiger Gast auf internationalen Festivals, ob mit seinen eigenen Regiearbeiten oder als Produzent. Seine Filme drehen sich um die grossen Themen des Lebens: Heimat, Identität und ganz einfach um die berühmte Suche nach dem eigenen Platz auf dieser Welt.

In «Return to Seoul» bezieht Chou, dessen Eltern vor dem Roten Khmer-Regime nach Frankreich geflohen sind und ihrem Herkunftsland Kambodscha den Rücken zudrehten, persönliche Erfahrung und Geschichte mit ein. Er weiss genau, was es bedeutet, zwischen zwei Kulturen zu stehen.

Seine Protagonistin wurde in Südkorea geboren, dann aber als Säugling von einem französischen Paar adoptiert. Sie kehrt erst im Erwachsenenalter ins Land ihrer Vorfahren zurück und sucht nach ihren biologischen Eltern. Dabei geht es ihr weniger darum, zu verstehen, wieso sie diese damals freigegeben haben, sondern um eine Leere in sich zu füllen. Diese Identitätssuche gestaltet sich holprig.

Und das ist eine der Kernaussagen des Films, der sagt, dass es in Ordnung ist, verschiedene Persönlichkeiten in sich zu tragen. Mit jeder Lebensentscheidung verändert sich in einem etwas und selten bleibt man der gleiche Mensch für das ganze Leben erst recht nicht, wenn man offen dafür ist, was einen umgibt.

Abgesehen von der inhaltlichen Dringlichkeit des Films, der einen sensiblen Blick auf das noch wenig bekannte Phänomen der massiven Adoptionswelle südkoreanischer Kinder in den Jahren vor dem Wirtschaftswunder des Landes zeigt, findet «Return to Seoul» dank eines herausragenden Schauspielerensembles und einem überzeugenden Drehbuch auch künstlerisch anspruchsvolle und einprägsame Bilder.

4 von 5 ★

«La nuit du 12»

In einer Welt von Männern | 115 min

von Dominik Moll

Die Geschichte des neuen Films von Dominik Moll ist an sich ein einfacher Kriminalfall. In Frankreich würden 20 % aller eröffneten Mordermittlungen nie zum Fassen des Täters oder der Täterin führen, steht im Vorspann des Films. Um eine solche Ermittlung geht es in «La nuit du 12». Eine junge Frau wird in der Nacht von einem Vermummten mit Benzin übergossen und angezündet. Die Aufklärung des Falls wird der Einheit des frisch gebackenen Polizeichefs Yohan der Kriminalpolizei zugeteilt.

Bereits seit seinem stimmungsvollen, stellenweise recht verstörenden Thriller «Harry meint es gut mit dir» (2000) beweist der französische Regisseur ein Gespür für Rhythmus, trockenen, öfters auch zynischen Humor und für eine präzise Führung seiner Darsteller.

Harry bleibt einem durch die grossartige Leistung von Sergi Lopez in Erinnerung. Bei «La nuit du 12» sind es das Duo Bastien Bouillon und Bouli Lanners als Ermittler, die mit wenigen, aber ehrlichen Worten eine Männlichkeit verkörpern, die sich ihrer gesellschaftlichen Verantwortung bewusst ist.

Über zwei Stunden hinweg hält der Film die Spannung mit einer dichten Inszenierung, die nie aufgeregt oder reisserisch ist und sich damit der üblichen Form eines Thrillers oder Kriminalfilms eher entgegensetzt. Zu den vielen intelligenten und witzigen Pointen gehören der Diskurs über das Pinkeln im Sitzen, der Nervenzusammenbruch wegen des kaputten Kopierers oder die Szenen, in denen es um das Verfassen einer unendlichen Reihe von Berichten geht.

5 von 5 ★

«Tchaikovsky's Wife»

Wie eine Frau ein Genie zerstören kann | 143 min

© HYPE FILM

von Kirill Serebrennikov

Es wird als offenes Geheimnis gehandelt, dass der russische Komponist Piotr Ilych Tchaikovsky, Schöpfer von Stücken wie «Schwanensee» und «Der Nussknacker», die wohl zu den bekanntesten Werken der klassischen Musik gehören, vermutlich homosexuell gewesen sei. Trotzdem war er verheiratet. Um diese Ehefrau geht es in Serebrennikovs opulentem Historiendrama.

Der Regisseur reproduziert die misogyne Auslegung, dass Antonina, die Ehefrau, die wie eine Besessene an der Ehe mit Tchaikovsky festhält, obwohl dieser ihr nicht nur einmal zu verstehen gibt, dass er sie verabscheut und ihre Anwesenheit nicht erträgt, im Grunde am Niedergang ihres Mannes schuld ist. Sie ist die Frau, die das Genie behindert, es krank macht und damit zerstört.

Über zweieinhalb Stunden sieht man dabei zu, wie die Protagonistin immer wieder aufs Neue erniedrigt wird – sie macht es den Männern auch besonders einfach, muss man dazu sagen. Sichtbar ist im Film eine offensichtliche Freude, Leid und Elend darzustellen. Dieser Blick ist voyeuristisch und, wie gesagt, äusserst misogyn.

Es scheint, es wäre interessanter gewesen, hätte man den Fokus auf den Männerzirkel gelegt. Homosexualität war damals wie auch heute in Russland ein Tabuthema. Sich unter Putin dazu zu bekennen, ist gefährlich. Einen Nationalhelden wie Tchaikovsky damit zu «diskreditieren», wohl mindestens genauso.

Sucht man weiter, könnte man in der Hauptfigur insofern eine politisch-kritische Intention des Regisseurs vermuten, dass sie für ihn die Personifizierung von Fanatismus sein könnte. Es ist kaum Liebe, die sie an ihren Mann bindet. Sie hält aber an ihrem Entschluss fest, ihn für sich haben zu wollen. Sie vergöttert ihn wie ein höheres Wesen, ganz egal, ob er sich wie ein unbarmherziger Tyrann verhält. Diese Blindheit, dieser Wunsch geführt zu werden, könnte ein Kommentar auf Putin und seine Gefolgschaft sein.

2 von 5 ★

«Le otto montagne»

Schweigsam in den Bergen | 147 min

von Felix van Groeningen und Charlotte Vandermeersch

Der belgisch-flämische Regisseur Felix van Groeningen hat schon mit einigen seiner Filme Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Sein grösster Erfolg war «The Broken Circle», indem ein junges Paar mit der Leukämiekrankheit seiner Tochter zu kämpfen hat und daran zu zerbrechen droht.

Auf seine Weise ist das Gemeinschaftswerk des Paares Van Groeningen und Vandermeersch nicht weniger sentimental überladen und genau genommen, auf die Kerngeschichte heruntergebrochen, genauso dünn.

Auch «Le 8 montagne» ist ein Melodrama, das sich mit existenziellen Themen beschäftigt. Es geht um die Freundschaft zwischen Pietro und Bruno. Pietro ist ein Junge aus der Stadt, Brunos Heimat sind die hohen Berge des Apennins im Aostatal. Sie lernen sich kennen, als Pietro mit seiner Familie Urlaub im kleinen Ort Grana macht. Da keine anderen Kinder da sind, verbringen die beiden Zeit miteinander.

Ein paar Jahre lang sehen sie sich regelmässig, bis sie sich über ein Jahrzehnt aus den Augen verlieren, um dann als Erwachsene wieder zueinanderzufinden. Adaptiert wurde die Geschichte vom gleichnamigen Roman des Italieners Paolo Cognetti.

Gäbe es keine beeindruckenden Bergaufnahmen, die durch das 4:3-Bildformat zusätzlich an Eindrücklichkeit gewinnen, und die herausragende schauspielerische Leistung von Luca Marinelli und noch mehr von Alessandro Borghi, welche die beiden Protagonisten als Erwachsene spielen, würde man aus lauter Langeweile verzweifeln. Eintauchen in diese wortkarge, oft stumme Welt dieser Jungen und Männer fällt einem schwer. Die wenigen Dialoge sind banal, die begleitende Musik äusserst kitschig.

Auf die Bedeutung der gewählten historischen Epochen, die Schauplätze und den kulturellen Kontext hätte man zudem näher eingehen können. Letzteres ist besonders bitter, wenn man im Vergleich dazu den Aufwand betrachtet, den die beiden erwähnten Darsteller gemacht haben, um als Römer derart glaubhaft als Norditaliener durchzugehen. Solche Vater-Sohn-Beziehungen glaubt man bereits mehrfach gesehen zu haben. Genauso reproduziert der Film altbekannte Klischees, wenn es um den Charakter des Berglers oder die Identitätssuche in Nepal geht.

2 von 5 ★

«Triangle of Sadness»

In der Scheisse sitzen | 150 min

© Xenix Film

von Ruben Östlund

Der neue Film des schwedischen Regisseurs Ruben Östlund ist von allem sehr viel. Über zweieinhalb Stunden breitet sich in «Triangle of Sadness» ein unangenehmes Gefühl des Fremdschämens auf der Leinwand aus, das in seinem Höhepunkt ein unerträgliches Mass erreicht.

Schonungslos rechnet der Film mit den Reichen und Schönen dieser Welt ab: Egal ob es sich um das Model Yaya handelt, die sich einen Ausweg aus dem Beruf durch die Heirat mit einem Millionären wünscht, den russischen Unternehmer, der ein Vermögen mit dem Handel von Dünger gemacht hat, oder den alkoholkranken Kapitän eines Kreuzfahrtschiffes, der nichts mit Haute Cuisine anfangen kann und stattdessen Burger mit Fritten bestellt.

Östlund testet die Schmerzgrenze des Zuschauers auf mehreren Ebenen aus. Im Mittelstück, das länger ist als die zwei weiteren Teile, mischen sich Ekel mit fast kindlicher Freude über eine solche Dreistigkeit, derart hemmungslos auf die Pauke zu hauen. Am besten verrät man möglichst wenig über den Inhalt des Films, jede Wendung kommt unvorbereitet, jede Pointe sitzt, wenn man glaubt, das es nicht radikaler werden kann, tut es dies dennoch. Neben der Kritik an die Menschen, die ihren Reichtum in der Dekadenz verschwenden und für die Gesellschaft im engen Sinne unbrauchbar sind, stellt der Film in nahezu jeder Szene treffend konventionelle Geschlechterrollenmuster und -verhalten in Frage. Auffällig ist zudem der aussergewöhnlich grosse Ideenreichtum und die Pflege selbst der einfachsten Details.

5 von 5 ★

«La dérive des continents (aus sud)»

Wenn die Welt näherrückt | 89 min

© IMDb

von Lionel Baier

Es ist nicht abwegig, dass es manchmal einfach einen Aussenstehenden braucht, um mit scharfem Blick über eine bestimmte Sache zu sprechen: In diesem Fall ist es ein Schweizer, der sich mit den Strukturen der Europäischen Union und ihrer Flüchtlingspolitik auseinandersetzt. Lionel Baier untersucht anhand einer fiktiven Geschichte, welche Abhängigkeiten, Missverständnisse, Befindlichkeiten und Bedürfnisse zusammenspielen, wenn es um Migration geht.

Im Mittelpunkt stehen die Vorbereitungen für den Besuch des französischen Präsidenten und der deutschen Bundeskanzlerin in einem Flüchtlingsheim auf Sizilien. Vorausgeschickt werden jeweils die beiden Verantwortlichen für Öffentlichkeitsarbeit. Was sie vor Ort sehen, überzeugt sie nicht: Alles ist viel zu sauber, viel zu funktionierend und der Einwanderer aus Senegal spricht ein viel zu perfektes Französisch. Die Bauruinen hinter dem offiziellen Gelände wirken schon viel «aussagekräftiger».

Auch wenn sich «La dérive des continents (au sud)» mit bitter ernsten Themen beschäftigt, findet er immer wieder zu anrührenden und humorvollen Momenten, die dank einem präzisen Drehbuch, einem grossen Ideenreichtum und sorgfältigen Darstellung von unterschiedlichen Kulturen herausragend zur Geltung kommen. Das internationale Schauspielerensemble harmoniert wie ein fein abgestimmtes Orchester, jede Figur hat ihre spezifische Eigenschaft und selbst die Nebenrollen sind liebevoll gezeichnet.

Genauso wie die Handlung die Figuren im Film immer wieder vor den Kopf stösst und desillusioniert, sie mit ihren Vorurteilen und Erwartungen konfrontiert, so tut es der Film mit dem Zuschauer. Die Dinge sind eben nicht nur schwarz oder weiss. Und einmal mehr beweist Baier, wie wirkungsvoll Komödie sein kann.

5 von 5 ★

«Holy Spider»

Der Spinnenmann | 115 min

© Xenix Film

von Ali Abbassi

Seinen neuen Film «Holy Spider» situiert der iranisch-dänische Regisseur Ali Abbasi in seiner iranischen Heimat. Zuletzt hatte er mit «Border» einen äusserst originellen, wenn auch etwas enigmatischen und durchaus auch leicht verstörenden Film präsentiert. Das neue Werk ist weit konventioneller.

Darin geht es, inspiriert von einem real existierenden Kriminalfall, um einen mittelaltrigen Mann, der sich als Wächter der guten Sitten aufspielt und deswegen eine Prostituierte nach der anderen erwürgt und verscharrt. Eine Journalistin setzt sich in den Kopf, ihn selbst überführen zu wollen, was ihr schliesslich auch gelingt.

Der Film ist grob in zwei Teile geteilt. Der erste widmet sich der Darstellung der Morde und der Jagd des Täters, der zweite dem Prozess, der diesem im Anschluss an seine Verhaftung gemacht wird. Der erste Teil ist ziemlich krude, keines der schmerzverzerrten Gesichter lässt der Film aus und wirkt dabei eher reisserisch, effekthascherisch als etwa aufklärend.

Am eindrücklichsten ist der zweite Teil, weil er es schafft, starke Emotionen hervorzurufen. Hier funktioniert die Gesellschaftskritik, die Abbasi im Sinn hatte. Es ist schade, dass er sich nicht mehr darauf konzentriert hat.

3 von 5 ★

«Les amandiers»

Die wilden 80er | 126 min

© IMDb

von Valeria Bruni Tedeschi

Die italo-französische Schauspielerin und Regisseurin Valeria Bruni Tedeschi knüpft mit ihrer neuen Regiearbeit «Les amandiers» an ihren früheren Film «Actrices» von 2007 an. Darin setzt sie sich mit den Dynamiken im Theater auseinander. Erfahrene Darsteller mit ihren jeweiligen Macken und Befindlichkeiten kommen unter der Regie eines strengen, egozentrischen Intendanten zusammen, um ein Stück von Tschechow vorzubereiten.

Bruni Tedeschi spielte damals die Hauptrolle, Nathalie Lvovsky stand ihr zur Seite. Für «Les amandiers» sind die beiden Frauen hinter die Kamera gewechselt und haben den Stoff auf die 1980er Jahre umgeschrieben. Die Figuren sind jünger, doch ihre Sorgen, Wünsche und Leidenschaften sind weitgehend die Gleichen. In der Rolle der jungen, etwas naiven, aber redseligen Stella glaubt man ein Alterego von Bruni Tedeschi zu erkennen. Wieder finden die Proben für ein Tschechow-Stück statt.

Die jungen Schauspieler der Theaterschule Les Amandiers sind aber von ihren Problemen abgelenkt, egal ob unerwiderte Liebe, sexuelle Abenteuer, mögliche Ansteckung mit Aids, frühe Schwangerschaft oder Drogensucht. Der Film dauert zwei Stunden und verliert sich in der Wiederholung des immer Gleichen.

Während der ersten Stunde hört und sieht man dem bunten Haufen gerne zu, noch lässt man sich von ihrem Enthusiasmus anstecken. Auf die Dauer sind ihre eher banalen Dialoge aber ermüdend und ihr Versuch, ihre Jugend bis zum Maximus auszukosten, wenig mitreissend.

2 von 5 ★

«Nostalgia»

Die Vergangenheit ruhen lassen | 117 min

© IMDb

von Mario Martone

Im Zentrum aller seiner Filme ist immer Neapel. Der italienische Regisseur Mario Martone siedelt seine Geschichten in dieser Stadt der Kontraste an, in einer Stadt überhöhter Schönheit und gleichzeitig grossen Elends. Hier spielt sich auch die Handlung von «Nostalgia» ab.

Felice kommt nach 40 Jahren Abwesenheit zurück in seine Heimatstadt, um seine alte Mutter zu besuchen. Er war mit 15 Jahren regelrecht von hier geflohen und hat sich in verschiedenen arabischen Ländern durchgeschlagen. Kurz nach seiner Ankunft stirbt seine Mutter, trotzdem möchte Felice fortan in Neapel bleiben. Damit ist allerdings ein alter Freund aus Jugendtagen nicht einverstanden, der mittlerweile zum gefürchteten Mafioso aufgestiegen ist und mit Felice noch eine Rechnung offen hat.

In mehreren Rückblenden erzählt der Film, worum es bei dieser Fehde genau geht. Um diese Teile klar vom Rest abzuheben, bekommen sie eine andere Farbgebung, die an ältere Super 8-Videos erinnern und entsprechend im 4:3-Format angeordnet sind.

Passend zum Titel des Films legt sich über die Geschichte eine gewisse nostalgische Stimmung, man könnte aber auch schon fast lethargische sagen. Die an sich schmale Handlung zieht sich hin, dreht sich um sich selbst. Auf die Dauer wird es immer anstrengender, dieser von Männern dominierten Welt Sympathien entgegen zu bringen. Angetrieben von ihrem Stolz, ihrem vermeintlichen Ehrgefühl und der Gewissheit die Zügel der Welt in ihren Händen zu halten, bewegen sie sich abstossend durch das Bild.

3 von 5 ★

«Marcel!»

Die Liebe zur Kunst | 93 min

© Festival de Cannes

von Jasmine Trinca

Die italienische Schauspielerin Jasmine Trinca versucht sich mit «Marcel!» zum ersten Mal als Regisseurin. In die Geschichte ist viel Persönliches eingeflossen, geht es doch im Drama, das Elemente des magischen Realismus enthält, um die Liebe zum Beruf des Schauspielers. Die Hauptrolle übernimmt Alba Rohrwacher, die ihrem Repertoire einmal mehr eine Figur hinzufügt, die in ihrer eigenen Realität lebt und sich vor allem durch eine rebellische Unangepasstheit auszeichnet.

Die Rohrwacher-Figur ist Mutter, aber in erster Linie Darstellerin. Sie stellt sich auf den Ortsplatz und führt gemeinsam mit ihrem geliebten Hund namens Marcel ein kleines Stück vor. Für ihre Tochter hat sie kaum Zeit, ihre Aufmerksamkeit gilt der Kunst und dem Hund - bis letzterer verschwindet. Zögerlich akzeptiert sie, dass ihre Tochter sie an der Stelle des Hundes begleitet.

«Marcel!» ist eine liebevolle Hommage an das Bohemien-Leben und an das Vaudeville-Theater. Es spiegelt sich darin eine grosse Nostalgie für die Urform des Schauspielerberufs. Die Bilder sind in warme Farben eingetaucht, die den märchenhaften Charakter der Geschichte noch unterstreichen.

Es ist nicht immer einfach, sich auf diesen Film einzulassen, der einen in eine Welt der Träume, der unbefriedigten Sehnsüchte und verpassten Chancen hineinziehen möchte. Besonders gut funktioniert es aber, wenn man bei einem Volksfest alte «Bekannte» wiederfindet: Ein Sängerpärchen imitiert das Duo Al Bano und Romina Power und ist ihnen zum verwechseln ähnlich.

3 von 5 ★

«Plan 75»

Ein würdiges Ende | 112 min

© IMDb

von Chie Hayakawa

In ihrem Regiedebüt verarbeitet die junge Japanerin Chie Hayakawa ein ernstes Thema. Wie einige andere Industriestaaten leidet auch Japan an einer zunehmend Überalterung seiner Gesellschaft. Eine der Konsequenzen sind die steigenden Kosten für Sozialleistungen und Renten. Alte Menschen besetzen zudem Wohnraum, das in Japan Mangelware und daher sehr kostbar ist.

Es sei tatsächlich eine feindselige Stimmung der jungen Generation gegenüber der älteren zu spüren, meinte Hayakawa im persönlichen Gespräch. Diese bildet die Basis für ihren Film. Inspiriert wurde sie für die Entwicklung ihrer Dystopie von einem realen Kriminalfall, in dem ein junger Mann mehrere Senioren tötete und seine Tat damit begründete, dass er dadurch der Gesellschaft Erleichterung verschaffen wollte.

Im Film geht es darum, eine Lösung für diese Gewalt und Frustration gegenüber Senioren zu finden. Der Staat entwickelt «Plan 75». Alle Menschen ab 75 dürfen kostenlose Sterbehilfe in Anspruch nehmen, die Einäscherung und Beerdigung in einem Massengrab ist inbegriffen, sie erhalten sogar eine Prämie.

Rund um diese neue Einrichtung entstehen verschiedene Berufsfelder für Jüngere: Man muss die möglichen Kandidaten anwerben und schliesslich betreuen, sobald sie sich für das Programm eingeschrieben haben – denn sie haben natürlich das Recht, es sich selbst im letzten Moment noch anders zu überlegen, aber das sollte vermieden werden.

Die Regisseurin präsentiert diese etwas futuristische und unheimliche Idee auf derart trockene Weise, dass man nicht lange braucht, um sie als realistisch anzusehen. Überhaupt hat der Film an sich einen fast dokumentarischen Einschlag. Er ist einfühlsam und spiegelt Eigenheiten der japanischen Gesellschaft, wenn es beispielsweise um die Umgangsformen geht, wider, die einen faszinieren und gleichzeitig ziemlich wütend machen.

Man hätte sich eine Straffung des Stoffes gewünscht, da sich ein paar Längen einstellen, und auch, dass am Schluss konsequenter auf den versöhnlichen Tonfall verzichtet worden wäre. Doch ingesamt vermag «Plan 75» zu berühren, regt zum Nachdenken an und verlangt, dass man sich mit den skizzierten gesellschaftlichen Problemen ernsthaft beschäftigt, denn sie gehen uns alle etwas an.

4 von 5 ★

«Burning Days»

Ein Mann der Integrität | 128 min

© IMDb

von Emin Alper

Wieder kehrt der türkische Regisseur Emin Alper nach seinem eindrücklichen und emotionalen Epos «Eine Geschichte von drei Schwestern» in die Provinz zurück. Dieses Mal stehen die Männer im Vordergrund.

Emre ist Staatsanwalt aus der Stadt und versucht, auf dem Land für Ordnung zu sorgen. Er nimmt sich vor, unbestechlich zu bleiben und einige der als Traditionen abgetane Unsitten zu bekämpfen. So richtig als Autoritätsperson nehmen die Dorfbewohner den eher schmächtigen Mann allerdings nicht an. Während einer Feier machen sie ihn betrunken und am nächsten Morgen wird bekannt, dass eine junge Frau, die bei der Feier anwesend war, brutal vergewaltigt wurde. Emre kann sich nicht genau an den Ablauf des Abends erinnern, muss aber trotzdem im Fall ermitteln – immer mit der Angst im Nacken, dass er selbst unschön beteiligt sein könnte.

Die karge, wüstenartige Landschaft fängt der Film sehr schön ein. Den Wassermangel, an dem der Ort leidet, glaubt man in fast jeder Szene nachspüren zu können. Man sieht, wie es den Menschen heiss ist, sie sich aber nicht baden können. Emre fährt recht weit in die Wüste hinein, um sich in einem der Sees dort erfrischen zu können.

Die Dynamik zwischen den Männern im Film ist beklemmend. Von Anfang an ist die Situation angespannt und wirkt bedrohlich. Für die Verkörperung seiner Figuren hat der Regisseur wahrlich Charaktergesichter gefunden, die einem nicht mehr so leicht aus dem Kopf gehen – und das Potential haben einen in den Träumen zu verfolgen, genauso wie sie es mit dem Protagonisten tun.

«Burning Days» ist Kriminalgeschichte und Gesellschaftskritik zugleich. Für eine präzisere Aussage hätte dem Film eine straffere Inszenierung gut getan. Mit künstlerisch anspruchsvollen Bildern evoziert er aber eine unterschwellig feindselige Atmosphäre, die einen einzufangen vermag.

4 von 5 ★

«Joyland»

Gesellschaftliches Korsett | 126 min

© Festival de Cannes

von Saim Sadiq

«Joyland» ist der erste Film aus Pakistan, der es je in die offizielle Filmauswahl des Festivals geschafft hat. Das Warten hat sich gelohnt, denn diese Mischung aus einfühlsame Liebesgeschichte, Gesellschaftskritik und Drama überzeugt durch eine differenzierte und komplexe Charakterzeichnung sowie einen respektvollen Umgang mit Traditionen und dem kulturellen Kontext.

Im Mittelpunkt der Geschichte stehen die kinderlosen Hader und seine Ehefrau, die auf engem Raum mit der Familie von Haders Bruder, die bereits vier Mädchen zählt, und Haders alten, strengen Vater, zusammenleben. Als jüngster Sohn fügt sich Hader den Anweisungen des Vaters. Nicht einmal pinkeln gehe er, ohne dessen Erlaubnis, necken ihn seine Kollegen. Als er eine Stelle als Tänzer in einem erotischen Cabaret bekommt, muss er dies verheimlichen, und behauptet er dem Vater gegenüber stattdessen, dass er zum Leiter des Theaters ernannt wurde. Das neue Umfeld verändert Hader aber, und weckt in ihm Sehnsüchte, deren Existenz er gar nicht kannte.

Der Film verhandelt das Thema Geschlechterrollen in einem äusserst patriarchalisch organisierten Land. Es sind nicht nur die Frauen, denen das Recht auf Selbstbestimmung abgesprochen wird, sondern auch allen, die ein wenig anders sind, wie in diesem Fall der Figur der Transfrau Biba.

Der Film ist auch deswegen so beklemmend und halt nachhaltig nach, weil er einfache Lösungen vermeidet. Es gibt keine klar definierten Fronten zwischen den Guten und den Bösen, vielmehr bemüht er sich, die beschriebenen sozialen Dynamiken in ihrer Vielschichtigkeit darzustellen.

4 von 5 ★

«Close»

Tragische Konsequenzen | 105 min

© Festival de Cannes

Es ist der zweite Spielfilm des belgischen Regisseurs Lukas Dhont, der in Cannes gezeigt wird. «Girl» war 2018 in der Nebensektion präsentiert worden, sorgte für erhebliche Aufmerksamkeit und war schliesslich belgischer Oscar-Kandidat für den besten internationalen Film. Dhonts neuer Film «Close» läuft in diesem Jahr direkt im Wettbewerb des Festivals und gehört zweifelsohne zu den stärksten Beiträgen der Auswahl.

Im Mittelpunkt dieser Geschichte ums Erwachsenwerden sind die beiden vorpubertären Schulkinder Leo und Rémi. Sie sind beste Freunde. Sie wohnen auf dem Land, spielen zusammen, raufen sich und schlafen oft im gleichen Bett. Die emotionale Nähe ist auch eine körperliche Nähe, die sich ganz natürlich ergibt. Als sie in die gleiche Schulklasse kommen, fragt sie aber eines der Mädchen, ob sie ein Liebespaar seien. Leo wehrt daraufhin vehement ab und reflektiert fortan, zum ersten Mal, seine Beziehung zu Rémi.

Dhont hat ganz offensichtlich eine gute Hand, wenn es um die Auswahl von ausdrucksstarken Jungdarstellern geht. Seine Protagonisten entwickeln eine derart intensive Anziehungskraft, dass sie einem nicht mehr so schnell aus dem Kopf gehen werden.

Wieder beschäftigt sich der Regisseur auf bisher kaum gesehene Weise mit dem Thema Sexualität und Geschlechterrollen bei Kindern. Es ist darüber hinaus auch sehr mutig, derart kompromisslos von Trauer zu sprechen. «Close» findet trotz der ganzen Schwere und Ernsthaftigkeit des Stoffes, immer wieder zu ausgelassenen Momenten und poetischen Bildern.

4 von 5 ★

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