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«Das ist grösser als ein Film»

Stefan Gubser
News: Stefan Gubser

Gestern Ukraine, heute Heimatland – und morgen Hollywood? Auf ein Glas Leitungswasser mit Ivan Madeo, der mit Der Kreis den ersten Schweizer Oscar seit Reise der Hoffnung gewinnen will: der Filmproduzent über die Kälte von Kiew, hitzige Debatten und offene Wunden.

«Das ist grösser als ein Film»

Ein abgelebter Altbau in Zürichs Kreis 4, das blinde Fenster eines zugemüllten Trödlerladens, ein paar Häuser weiter stossen sich die Autos durch die Langstrasse. Hupen, Huren, Feierabendverkehr: Ivan Madeo bittet in die Küche der kleinen Wohnung, in die er seine Produktionsfirma Contrast Film eingemietet hat. Ein roter Kühlschrank schnurrt vor sich hin, ein Transistorradio im Retrolook ziert die Fensterbank. Madeo scheint die Ruhe selbst, dabei ist sein Kreis in die lange Zielgerade eingebogen, an deren Ende ein Goldmännchen winkt, vielleicht, aber seine Oscar-Mission ist nicht das Einzige, was den Produzenten derzeit auf Trab hält. Ein nächster Film ist unterwegs; dieser Tage wird im Muotathal gedreht, die dritte Episode für einen Omnibus namens Heimatland.

Klingt abgefahren: Neun Schweizer Jung-Regisseure drehen gemeinsam einen Film über die letzten Tage vor dem Jahrhundertsturm, und sie erschliessen Neuland, weil nicht einfach jeder Regisseur eine kurze Story erzählt, wie man das von filmischen Stadthommagen an New York oder Paris kennt. In Heimatland sollen sich die neun Einzelteile zu einer einzigen, in sich geschlossenen Geschichte fügen. Ein Film, neun Egos: ein diffiziles Unterfangen, bei dem der Produzent gefordert ist, nicht nur weil im Muotathal bei tiefen Temperaturen sieben Tage lang ausschliesslich nachts gedreht wird. «Ein Dreh ist immer eine Operation an einer offenen Wunde, jede falsche Handbewegung ist fatal», sagt Madeo. Wie schafft er den Spagat zwischen «Kreis» und Heimatland? Gegenfrage Madeo: «Wie oft in seinem Leben macht man schon eine Oscar-Kampagne?»

Kalt, draussen und drinnen, war es auch in Kiew, wo Madeo gerade herkommt. Geheizt wird in der Ukraine erst ab dem 1. November, des anhaltend frostigen Verhältnisses mit Putins Russland wegen, das das Gas hat knapp werden lassen; in diesem Kriegsjahr werden die Heizungen noch einmal zwei Wochen später angeschaltet als vom Staat gewöhnlich angeordnet. Madeo hat in der ukrainischen Hauptstadt eine, wie er sagt, «feurige Rede über das Menschenrecht und die Entkriminalisierung der Liebe, egal welcher sexuellen Ausrichtung» gehalten – und das ausgerechnet am wegweisenden ukrainischen Wahlwochenende unter Beobachtung vieler Russen und Pro-Russen. Er habe sich erst auf Schweizer Boden wieder richtig sicher gefühlt, sagt Madeo. Hat er keine Sekunde daran gedacht, dass eine allfällige Verhaftung der beste PR-Stunt sein könnte, der dem «Kreis» hätte passieren können? «Jesses Gott, nein», Madeo verwirft die Hände, «das Gefängnis ist in der Ukraine keine leere Worthülse!» Einen Tag nach seiner Rückkehr aus Kiew brannte das Kino aus, in dem Der Kreis gezeigt wurde. Es deutet vieles darauf, dass der Anschlag die Aktion homophober Aktivisten war.

Dunkle Ringe unter den Augen des Kreis-Produzenten, «eine kleine Grippe» – aber natürlich hilft das mehr als jeder Schluck heisser Tee: Der Kreis wurde ein weiteres Mal ausgezeichnet. Noch ein Festivalpreis, Nummer, nachrechnen, zehn, elf war es, der Dank geht nach Hamburg, wohin Regisseur Stefan Haupt ohne Madeo gereist war. Ihm war Kiew, wo Der Kreis das Molodist-Festival eröffnete, besonders wichtig, weil er vermutet habe, was ihm vor Ort bestätigt wurde. Viele Homosexuelle führen in der Ukraine noch immer das, nun ja, Leben, das jenem in der Schweiz gleiche, von dem Der Kreis erzählt. «Die Ukraine ist heute etwa da, wo wir vor 50 Jahren standen», hat Madeo erfahren, auch deswegen hat er vor Ort zeigen wollen, «dass man für seine Überzeugungen kämpfen müsse.» Anfeindungen im Alltag, die Angst, den Job zu verlieren, wenn man geoutet wird, in Kiew kennt jeder Schwule einen, der von der Polizei festgenommen wurde. «Das ist mir schon noch einmal anders eingefahren», sagt Madeo, «plötzlich war alles so echt.»

Sie haben, auch in Kiew, nach der Vorführung mit jungen Ukrainern im kleineren Kreise weiter diskutiert. Mittlerweile sind sie zu einer Anlaufstelle geworden, einem Sammelbecken für Leute, die mit ihrem Outing oder ihrer Homosexualität ein Problem erlebt haben. Was soll ich tun? Wie muss ich mich verhalten? Per Briefpost oder via Facebook-Post – die Zuschriften reissen nicht ab. Zuletzt hat sich ein Mann gemeldet, der nach dem Film verstanden zu haben glaubte, warum sein Bruder sich das Leben genommen habe. Man habe jetzt entschieden, diese Dokumente zu sammeln. Für ein Sequel? Gelächter in der Küche bei einem Glas kalten, klaren Wasser. «Nein, das ist grösser als ein Film.» Madeo wird die gesammelten Reaktionen dem Schweizer Schwulenarchiv übergeben, angedacht ist ein Buch zum Film. Der Kreis zieht weitere Kreise. Oder wie die Amerikaner sagen, die den Film in den USA verleihen: «The movie became a movement.»

Unschöneres Thema: Dem «Kreis» läuft es zwar an Festivals rund, der Film wurde in mehr als 16 Länder verkauft, aber kaum jemand will ihn sehen. In der Schweiz haben sich den Schweizer Oscar-Kandidaten, Stand: Ende Oktober, gerade mal gut 20'000 Leute angeschaut. Das ist wesentlich weniger als vermutet, und das für einen Film, über den auch in der internationalen Presse nicht ein schlechtes Wort geschrieben stand. Sind junge Schwule nicht mehr an ihrer Vergangenheit interessiert? «Wir fragen uns alle, woran es liegt.» Schadet eben doch das Etikett «Schwulenfilm», das viele Medien dem «Kreis» ja nun nicht ganz zu unrecht anheften? Mag sein. «Vielleicht ist das schwule Publikum einfach nicht besonders treu», mutmasst Madeo. Ist der Herbst zu schön? Sind die schlechten Zahlen am Box Office nur ein Anti-Zürich-Reflex? In Basel hat er zu hören bekommen, schwules Kino gehe ja noch an, aber ein Film über Zürich? Absurd nennt ein jetzt lauter gewordener Madeo eine solche Haltung und legt einen Zählrahmen auf den Küchentisch: «Wenn nur schon jede und jeder vierte Homosexuelle in der Schweiz sich den Film anschaute, wären das weit über Hunderttausend!» Keine Überraschung ist zumindest, dass man auf dem Land einen Bogen um den «Kreis» macht.

Der Film steht vor entscheidenden Wochen. Haupt-Sache Oscar: Mitte November steigt Stefan Haupt wieder ins Flugzeug, mit ihm an Bord sind Ernst und Röbi, das schwule Paar, deren über 50-jährige Liebesgeschichte im Zentrum des «Kreis» steht. New York, Palm Springs, San Francisco, Los Angeles, San Francisco und wieder New York: Auch den Auslands-Oscar gewinnt man nicht mit Schweizer Kinotickets oder Publikumspreisen an Festivals in Berlin, Philadelphia oder Setubal, sondern mit den richtigen Beziehungen in Amerika, und die knüpft ein sogenannter Oscar-Publicist – für teures Geld. Die 50'000 Franken, die es vom Bund gab, sind da ein besseres Taschengeld, die letzte Oscar-Kampagne von Markus Imhoof hat gezeigt, dass etwa das Dreifache nötig sei, will man nicht chancenlos ins Rennen steigen. Für Madeo stand eine weitere Runde Fundraising an, nachdem – diese Geschichte hat er oft erzählt – acht Jahre ist das her, lange nicht sicher war, ob sich der Film überhaupt finanzieren liesse. Man hatte, als Der Kreis noch als reiner Spielfilm geplant war, sämtliche vom Bund gesprochenen Fördergelder verloren, weil in Deutschland für den Film nicht ein Cent aufzutreiben war. Die hohle Hand machen, die berühmten Türklinken putzen, der wenig glamouröse Alltag eines Filmproduzenten: «Jetzt kann ich einen Oscar-Kandidaten verkaufen statt eines schwul-lesbischen Risikoprojekts, das ist wesentlich einfacher.»

Einen dieser Oscars gewinnen: Das heisst, rund drei Monate vor dem Showdown in Los Angeles, Networking, Screenings, Empfänge. Haupt wird auf seinem Roundtrip durch die USA den dortigen Kinostart vorbereiten und gleichzeitig für den Oscar weibeln. Der Kreis muss bei den Academy-Members bekannt gemacht werden, bei der Hollywood Foreign Press, die die wichtigen Golden Globes vergibt, für die Der Kreis auch gemeldet ist. «Empfänge nach der Vorführung sind wichtiger als die Vorführung», war das Erste, das der erfahrene Publicist den Schweizern hinter die Ohren schrieb. Events! Den Beweis erbringen, dass hier ein Film am Start ist, der mehr Dringlichkeit hat als andere! Kennt Madeo eigentlich die schärfsten Konkurrenten? Mommy, den kanadischen Beitrag von Wunderknabe Xavier Dolan hält er für einen potentiellen Oscar-Gewinner, heimlicher Topfavorit ist der polnische Beitrag Ida, gute Karten hat Difret aus Äthiopien («Frauenrechte, ein gutes Thema»), und er, Madeo, hat auch The Way He Looks aus Brasilien auf der Rechnung. Kein schwuler Problemfilm, das ist in Hollywood nie ein Nachteil.

Ein Wort zum Wahlverfahren. Auch Madeo kennt das Prozedere erst, seit er sich über das Oscar-Reglement beugen musste. Wer weiss schon, dass die Mitglieder der Academy in verschiedene Gruppen aufgeteilt sind, die jeweils für eine einzige Oscar-Kategorie zuständig sind? Und dass jede dieser Gruppen ihrerseits dreigeteilt ist? Eine erste Gruppe verkürzt die über 80 Filme starke Long- zur Shortlist von noch 15 Kandidaten, eine zweite wählt die fünf Filme aus, die sich Oscar-Nominierte nennen dürfen, und eine dritte Gruppe kürt den Gewinner. Wobei, Aufregung am Tisch: Publicist David Magdeal hat herausgefunden, dass man den «Kreis» auch für andere Kategorien anmelden kann, was die Chancen auf den ersten Schweizer Oscar seit Reise der Hoffnung deutlich erhöhte, weil eine Mehrfach-Nomination den Film in den Medien noch präsenter machte. Fest steht zur Stunde, dass Der Kreis auch für die Oscar-Kategorie «Bester Schnitt» ins Rennen gehen wird, weil der Film überall für seine geglückte Vermählung von Dokumentar- und Spielfilm gelobt wird. Gut möglich, dass noch weitere Kategorien dazukommen, die Eingabefrist endet am 3. Dezember.

Das ist Musik einer nicht allzu fernen Zukunft. Aber bis zu den Oscars ist es ein weiter Weg, den Der Kreis ohne prominente Hilfe beschreiten will. Die Profis in den USA sind zum Schluss gekommen, dass Menschen, die schwule Schicksale erlitten haben und den Kampf um Gleichberechtigung Tag für Tag führen, dem «Kreis» mehr helfen als der öffentliche Zuspruch sogenannter Ambassadors vom Schlage eines Sean Penn, bloss weil der vor einigen Jahren als schwuler Politiker einen Oscar gewann. Glaubwürdigkeit ist das Zauberwort der Oscar-Kampagne des «Kreis»; durchaus zur Freude Madeos, der vermutet hatte, die Maschinerie laufe simpler.

Es ist dunkel geworden im Küchenfenster zum Hof, die Kreissäge auf der Baustelle in Nachbars Garten gibt endlich Ruhe. Das Handy klingelt, Madeo eilt in sein Büro. Jetzt zählt jeder Anruf.

4. November 2014

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