Winterschlaf Frankreich, Deutschland, Türkei 2014 – 196min.

Filmkritik

Türkisch für Fortgeschrittene

Filmkritik: Andrea Wildt

In der Szenerie der Höhlenlandschaft von Kappadokien erzählt der türkische Regisseur Nuri Bilge Ceylan von einem hochmütigen Grossgrundbesitzer, der einsehen muss, dass er nicht recht hat. Dafür bietet er fast dreieinhalb Stunden voller geschliffener Dialoge und metaphorischer Landschaftsaufnahmen. Der Film gewann dieses Jahr in Cannes die Goldene Palme.

Aydin, ein Mann um die 60, macht auf den ersten Blick einen sehr angenehmen Eindruck. Der ehemalige Theaterschauspieler lebt heute in Kappadokien, einer Landschaft in Zentralanatolien der Türkei. Dort in den Höhlenfelsen betreibt er ein kleines, aber sehr feines Hotel. Ausserdem erbten er und seine Schwester so einige Immobilien in der Region. Kurz, sie sind reich und so was wie die Könige in der Region.

Dass Aydin (Haluk Bilginer) nicht nur ein kultivierter Mann ist, sondern auch ein Psychopath der besonderen Art, suggeriert Winter Sleep relativ schnell. Um jedoch die Komplexität seiner Hochmütigkeit und Niedertracht zu ergründen, nimmt sich der Film gut drei Stunden Zeit. In dieser Zeit beobachten wir, wie Aydin seine wesentlich jüngere Frau Necla (Melisa Sözen), seine Schwester und Untergebenen mit bittersüsser Geringschätzung straft.

Diese Überzeugung eines Mannes, der glaubt, den anderen überlegen zu sein, überträgt Ceylan in seinem siebten Spielfilm in gestochen scharfe Dialoge und gehaltvolle Bilder von Figuren und Landschaft. Denn die Hochmut Aydins ist nicht einfach nur die eines Mannes, der denkt etwas Besseres zu sein. Er sagt es mit jeder Geste: Nach dem Besuch bei einer in Not geratenen Familie bemerkt er trocken, dass Armut auch Anmut haben kann, heute aber nur im Müll versinkt. Dies formuliert Aydin ebenso dichterisch, indem er hinzufügt, dass auch drei Oliven auf einem Teller schön angerichtet aussehen können. Solch verletzende Worte und existentielles Schweigen wie in Winter Sleep hat man seit Ingmar Bergmann nicht mehr auf der Kinoleinwand gesehen.

Dieser Kontrast aus Poesie und Realpolitik verleiht Winter Sleep seine Faszination. In der surrealen Landschaft von Kappadokien mit seinen Felsformationen und Wildpferden bekommt man das Gefühl an einem Ursprungsort des Lebens zurückzukehren. Zugleich brodeln dort grundlegende Konflikte der Menschheit wie die Ungerechtigkeit zwischen Arm und Reich, kultiviert und primitiv. Diese Gegensätze bekommen bei Ceylan zahlreiche Schattierungen: Vom nationalistischen Schreiber über den eiskalten Lügner bis zum psychopatischen Ehemann verwandelt sich sein Protagonist auf der Leinwand zuletzt in einen echten Unsympathen. Selten hat man eine Figur so subtil gehasst.

Am Ende legt sich der erste Schnee über die Landschaft und die verletzten Seelen dieses poetischen Sozialdramas. Ein neuer Anfang. Aydin tippt die ersten Zeilen seiner Abhandlung über das türkische Theater.

23.04.2015

4

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Kommentare

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poesiemeister

vor 9 Jahren

was habe ich mich über die Hauptfigur aufgeregt, ein selbstverliebter ex-schauspieler - was für eine meisterleistung des Schauspielers und der Dialogschreiber, kongenial bebildert. Bilderlandschaft


willhart

vor 9 Jahren

von wegen Langatmig
Glücklich so feinfühlig und so hervorragend artikuliert in eine andere Mentalität eingeführt zu werden. Ein Must See zum besseren Verständnis anderer (hier der türkischen) Kultur. Hinreissende Kulisse


Berufsromantiker

vor 9 Jahren

Langatmiger Problemfilm, wo der Besitzende der Böse ist und die Leute, die nichts haben die Guten sind. Habe ich nicht verstanden. Schade.


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