Interview

Xavier Koller: «Das Kino als Sieger verlassen»

Stefan Gubser
Interview: Stefan Gubser

Der letzte Schweizer Oscar-Gewinner hat den Jugendbuchklassiker von Lisa Tetzner verfilmt: Regisseur Xavier Koller über Zeitfenster, Verkaufsargumente, Missverständnisse und Bratpfannen.

Xavier Koller: «Das Kino als Sieger verlassen»

Noch immer eine kleine Wut im Ranzen wegen Eine wen iig, dr Dällebach Kari?

Wir haben natürlich mehr Zuschauer erwartet. Aber man weiss ja nie: Stimmt der Zeitpunkt? Ist die Konkurrenz zu gross? Das Zeitfenster für einen Film ist klein geworden. Man kann ihn nicht mehr wie früher aufbauen. Das ist oft ein Nachteil, je nach dem wie viel Pflege ein Film braucht.

Viele dachten wohl, Eine wen iig sei ein Remake des grossartigen Kurt-Früh-Werks. Dabei war's ein Prequel.

Da waren viele Missverständnisse. Ich wollte den Dällebach Kari nie im Titel, aber der Verleih hat darauf bestanden, weil er ein Verkaufsargument sei. Er war dann genau das Gegenteil.

Ist Lisa Tetzner heute noch ein «Verkaufsargument»?

Ich weiss nicht.

Ihr Bruder soll Ihnen ihre Die schwarzen Brüder im Bett vorgelesen haben.

Jaja. (lacht) Ich habe die Geschichte gekannt, die war mir präsent. Jugendbücher fahren einem ja ein.

Und beim Wiederlesen?

Ich bin radikal dahinter, habe alles verknappt und Schwerpunkte gesetzt. Die grosse Frage ist: Wie schauen sich junge Leute heute einen Film an?

Gute Frage: Wie schauen sich junge Leute heute einen Film an?

Wie viel Tempo braucht ein Film? Wie viel Langsamkeit erträgt er? Wie viel Drama gleich am Anfang? Der Schiffsuntergang etwa, der im Roman sehr viel Platz einnimmt, kommt für den Film zu früh. So etwas kann für einen Jugendlichen so traumatisch sein, dass er sich den Rest des Films gar nicht mehr anschaut.

Hat die Youtube-Jugend von heute nicht schon alles gesehen?

Zentral für einen Jugendfilm ist die Balance zwischen Komödie und Drama. Wenn es zu depressiv wird, hat man keinen Spass, dann verlässt man das Kino nicht erlöst. Ich möchte, dass die Jungen das Kino als Sieger verlassen.

Deswegen auch diese Ausgewogenheit: Giorgio wird zwar als Kaminfegerjunge nach Mailand verdingt, lernt da aber immerhin eine hübsche Frau kennen. Und lesen und schreiben.

Genau, die Hoffnung darf nicht sterben. Es geht um diese Freundschaften, um Solidarität. Um die Einsicht, dass man nur gemeinsam etwas erreichen kann. Feindschaften unter Gleichgesinnten bringen nichts, man muss gemeinsam für das Richtige kämpfen. Das sind die Grundthemen, die bei den «Schwarzen Brüdern» durchgehen.

Ein Jugendfilm ohne Bestseller-Vorlage: Geht das eigentlich noch?

Ich weiss nicht. Man muss in dem, was man macht, einfach wahrhaftig und eigenständig sein. Meine Erfahrung zeigt – und ich war jetzt in einigen Schulvorstellungen: Die Kinder können sich mit diesen Figuren identifizieren und sind am Schluss des Films aufgestellt.

Einen Jugendfilm drehen: Ist das ein wenig wie Challenge statt Champions League?

Naja.

Ist es auch einfach sehr anspruchsvoll, weil man die Jugend ja gar nicht mehr kennt?

Das ist alles gefühlsgetrieben. Das sind weniger rationale Überlegungen als vielmehr Nach-Empfindungen.

Wie gross war das Problem, einen Film über Kinderarbeit zu machen – und selbst auch mit Kindern arbeiten zu müssen?

Das Problem ist, man kann mit unter Zwölfährigen nur drei Stunden am Tag drehen. Da steht das Jugendamt wirklich mit der Stoppuhr neben dir. Wir mussten die Buben älter besetzen, um in den vorgesehenen 41 Drehtagen durchzukommen. Ein positiver Nebeneffekt war, dass aus dieser zarten Liebesgeschichte mit Angeletta eine richtige werden konnte. Wenn die schon älter sind, dann kann Giorgio sie nicht in Mailand zurücklassen.

Bei jedem historischen Filmstoff stellt sich die Frage nach seiner Relevanz für die Gegenwart. Ist der Catwalk zum Kamin des 21. Jahrhunderts geworden? Verkauft sich die Jugend von heute in Castingshows?

Das war nicht die Überlegung. Die Überlegung war, dass Luini eigentlich ein Schlepper ist. Warum ist der immer besoffen? Der Grund ist seine Schuld, der lügt sich ja immer durch, und Giorgio macht ihn im Grunde darauf aufmerksam, wer er ist. Diese Balance: Wo ist es spielerisch, dramatisch, ironisch? Das zu erzählen macht natürlich viel Spass.

Die schwarzen Brüder ist eine ausgesprochen deutsche Produktion, die immer so tun muss, als käme sie irre italienisch daher. Happy damit?

Das muss man irgendwann einfach akzeptieren. Punktuell kann man etwas machen, durch die Atmosphäre, die man schafft. Auf dem Markt zum Beispiel. Man braucht das Kolorit.

Das ist auch ein Film über «heute noch gültige Werte», wie Sie mal sagten: Brüderlichkeit, Solidarität, Freundschaft – vor allem unter Männern. Richtig böse ist ja nur die Frau von Giorgios Chef.

Im Roman sind ja alle Frauen alt, hässlich oder krank, da gibt es keine normale Frau. (lacht) Das geht einfach nicht auf. Diese Trossi ist ja so eine «Comic Relief»-Figur. Da haben wir dem Affen ein bisschen Zucker gegeben, das ist sicher an der Grenze des Tolerierbaren. Das habe ich in Kauf genommen, sie hat so wenige Szenen.

Drei. Und in jeder zieht sie einem Mann ihre Bratpfanne über die Rübe.

Jeder gute Gag muss dreimal kommen, damit er funktioniert. (lacht) Beim ersten Mal ist man überrascht, beim zweiten Mal weiss man nicht, und beim dritten Mal erwartet man es. (lacht) Die Ökonomie der Energie des Zuschauens. Dazu habe ich meine ganz eigene Theorie: Wann muss man Luft ablassen, damit man atmen kann? Wann kann man weitergehen? Das ist wie in der Musik.

Sie denken in Bildern. Stört es, wenn die Romanvorlage schon so starke Bilder vorgibt?

Bilder sind Gefühle. Wie fange ich das Gefühl ein, das mir diese Bilder gaben? Das sind emotionale Begriffe. Beim Kamin kommen dann ganz praktische Fragen dazu. Wie viel Enge erträgt es, damit man mit der Kamera etwas machen kann? Damit man das Gefühl des Eingeschlossenseins vermittelt? Wichtig ist, dass es wahrhaftig bleibt. Wahrhaftigkeit ist mir immer ein grosses Anliegen.

Die Arbeit des Regisseurs: Hat das auch etwas vom Kriechgang durch einen Kamin – in der Hoffnung, das Licht am Ende des Tunnels sei die Leinwand?

Teilweise schon. Aber für mich ist die Arbeit vor allem lustbetont. Ich mag den Prozess, das Zusammensein mit den Leuten. Meine Aufgabe ist es, ihren Mut zu unterstützen. Ich muss schauen, dass die Leute den Mut haben, das Maximum aus sich herauszuholen.

17. Dezember 2013

Weitere Interviews

Regisseur Christophe Van Rompaey über seine rebellische Jugend, Depressionen und die Generation Z

Der kleinste Stuntman der Welt, Kiran Shah: «Bei Star Wars muss ich einfach meinen Kopf ausschalten!»

«The Lost City of Z»-Entdecker im Interview: «Wir haben es oldschool gemacht»

Frédéric Mermoud über sein Schweizer Beziehungsdrama «Moka»